Verrückte Zeit
ERSTES KAPITEL
Den ganzen Tag schon hatte der Nebel Seattle verschluckt, und gegen halb sechs drückte er gegen das großflächige Fenster von Lauren Steeles Büro, als ob er Einlaß begehrte. Sie ertappte sich dabei, daß sie immer wieder besorgt hinaussah, während der Frau, die ihr am Schreibtisch gegenübersaß – ihrer letzten Patientin an diesem Tag – langsam die Puste ausging, nachdem sie eine Litanei von Beschuldigungen gegen ihren derzeitigen Chef vom Stapel gelassen hatte.
Die Patientin wurde auf ihrem Stuhl unruhig, da auch ihr der weiße Vorhang auffiel, der sich über die Welt jenseits des Fensters herabgesenkt hatte. Rose – Rosie – Lauren mußte einen Blick auf die Mappe vor sich werfen, um sich über den Namen zu vergewissern – Rosalie Gruen – Rosalie raffte ihren Regenmantel und ihre Handtasche zusammen und begann mit dem automatischen Kramen in Manteltaschen und Handtasche, mit dem Frauen ihren Abgang einzuleiten pflegen. »Die Fahrerei wird unangenehm werden«, sagte sie traurig. »Ich hoffe, es friert nicht. Eis und Nebel zusammen sind am schlimmsten.«
»Haben Sie eine weite Strecke vor sich?«
»Bis Bothell.« Sie hörte sich bekümmert an. »So, ich glaube, ich sollte mich auf den Weg machen.«
Lauren nickte mitfühlend, obwohl sie keine Ahnung hatte, daß Bothell viele Meilen nordöstlich von dem Gebäude, in dem sie ihr Büro hatte, lag. Sie hatte vor, das kurze Stück bis zu ihrem fünf Häuserblocks entfernten Zuhause zu Fuß zu gehen. »Also, lassen Sie sich, sobald es Ihnen paßt, einen Termin für die Tests geben, und wenn wir die Ergebnisse haben, werden wir dementsprechend weitermachen. Ich bin sicher, wir werden eine Lösung finden.«
Nachdem ihre Patientin fünf Minuten weg war, hätte Lauren Schwierigkeiten gehabt, sie zu beschreiben oder zu sagen, welche Beschwerden sie vorgetragen hatte. Sobald sie allein war, fing sie an, ihren Schreibtisch aufzuräumen, während sich ihre Gedanken mit den Problemen, die sie selbst mit ihrem Job hatte, beschäftigten, anstatt mit den fast stets gleichlautenden Problemen, die sie sich immer wieder von ihren Patienten anhören mußte. Sie wußte, daß sie bei einem Vergleich Parallelen mit ihren eigenen Schwierigkeiten feststellen würde, und deshalb schreckte sie vor solchen Überlegungen zurück und schob sie sofort beiseite. Sie war keine Patientin, ermahnte sie sich bei solchen Gelegenheiten streng; sie war die Psychologin, die Ratgebende. Sie ließ den Blick über den aufgeräumten Schreibtisch schweifen und durch das aufgeräumte Büro, das konsequent in geschmackvoller Farblosigkeit eingerichtet war – elfenbeinfarbene Wände, elfenbeinfarbener Teppichboden, elfenbeinfarbene Vorhänge, helles Holz, elfenbeinfarben bis ins kleinste. Selbst die Photos an den Wänden waren zu einem Grau-in-Grau verschwommen und zeigten ausnahmslos elfenbeingetönte, nichtssagende Landschaften. Ihre einzigen persönlichen Dinge in diesem Büro waren einige Geranien in elfenbeinfarbenen Töpfen auf dem Fenstersims, und die sahen kränklich und blaß aus.
Als sie in den Empfangsraum hinaustrat, sah sie unwillkürlich nach, ob die Sekretärin schon gegangen war. Gloria war nur knapp einen Meter sechzig groß, und Lauren kam sich, verglichen mit ihr, wie eine Giraffe vor. Lauren war über einsachtzig, und das war kein geringes Problem, wie sie zugeben mußte. Ihre Patienten waren eingeschüchtert, sobald sie aufstand; nur für die Showgirls war es angemessen, so groß zu sein. Solche Mädchen wurden von kleinen Männern umschwärmt wie die Königin von ihren Arbeitsameisen, doch eine berufstätige Frau von dieser Größe stellte eine Bedrohung dar.
Die Sekretärin war bereits gegangen. Lauren begab sich zum Aufzug, wo Rich Steinman schon stand; er war sieben Zentimeter kleiner als sie und zwanzig Pfund leichter. Rich murmelte irgend etwas vor sich hin, wahrscheinlich legte er sich eine Ausrede für sein Zuspätkommen zurecht, als ob seine Frau nicht genug Verstand hätte, aus dem Fenster zu schauen und zu sehen, wie dicht der Nebel geworden war. Rich war zuständig für Familien- und Ehekrisen – seine Aufgabe war es, Paare so zu beraten, daß ihre Beziehung gesund und intakt blieb. Lauren hatte den Eindruck, daß die meisten seiner Patienten sich trennten und soweit wie möglich auseinanderzogen, nachdem sie Rich einige Male konsultiert hatten. Er brachte die Ehe in Verruf.
Warren Foley machte sich ebenfalls auf den Heimweg. Er hatte
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