Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen
und versuchte, ein Taxi zu bekommen, aber keines blieb für mich stehen. Einige Minuten später glitt mir der Schirm aus der Hand und fiel in eine Pfütze. Ich machte mir nicht die Mühe, ihn aufzuheben.
Es war kurz nach sieben Uhr, als ich auf dem Südbahnhof ankam. Ein Zug nach New York war vor einer Viertelstunde abgefahren, und der nächste sollte fahrplanmäßig erst um halb neun kommen. Ich setzte mich auf eine der Holzbänke, mit dem roten Notizbuch auf dem Schoß. Ein paar späte Pendler bummelten herein; ein Hausmeister fuhr langsam mit einem Mopp über den Marmorboden. Ich hörte zu, wie sich zwei Männer hinter mir über die Red Sox unterhielten. Nachdem ich dem Drang zehn Minuten lang widerstanden hatte, schlug ich endlich das Notizbuch auf. Ich las beinahe eine Stunde lang ununterbrochen, blätterte hin und her und versuchte, einen Sinn in dem zu entdecken, was Fanshawe geschrieben hatte. Wenn ich nichts über das sage, was ich fand, so deshalb, weil ich nur sehr wenig verstand. Alle Worte waren mir vertraut, und dennoch schienen sie auf eine seltsame Weise zusammengesetzt worden zu sein, so als wäre es ihr Endzweck, sich gegenseitig aufzuheben. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Jeder Satz löschte den vorausgegangenen aus, jeder Abschnitt machte den nächsten Abschnitt unmöglich. Es ist daher seltsam, dass das, was von diesem Notizbuch übrig bleibt, ein Gefühl großer Klarheit ist. Es ist, als hätte Fanshawe gewusst, dass sein letztes Werk jede Erwartung, die ich dareinsetzte, umstoßen musste. Dies waren nicht die Worte eines Mannes, der etwas bedauerte. Er hatte die Frage beantwortet, indem er eine andere Frage stellte, und daher blieb alles offen, unvollendet und musste neu begonnen werden. Ich verlor meinen Weg nach dem ersten Wort, und von da an konnte ich mich nur vorwärtstasten, schwankend in der Dunkelheit, geblendet von dem Buch, das für mich geschrieben worden war. Und doch, unter dieser Verwirrung fühlte ich, dass da etwas zu Gewolltes, etwas zu Perfektes war, so als wäre zuletzt versagen das Einzige gewesen, was er wirklich gewollt hatte. Ich könnte mich jedoch irren. Ich war in diesem Augenblick kaum in der Lage, etwas zu lesen, und mein Urteil ist möglicherweise falsch. Ich war da, ich las diese Worte mit meinen eigenen Augen, und doch fällt es mir schwer zu glauben, was ich sage.
Ich schlenderte mehrere Minuten vor der Zeit zu den Gleisen hinaus. Es regnete wieder, und ich konnte meinen Atem in der Luft sehen; er trat in kleinen Nebelstößen aus meinem Mund. Ich riss eine Seite nach der anderen aus dem Notizbuch, zerknüllte sie mit der Hand und warf sie in einen Abfalleimer auf dem Bahnsteig. Ich kam bei der letzten Seite an, als der Zug gerade abfuhr.
Fußnoten
1
dark = dunkel. A.d.Ü.
[zur Inhaltsübersicht]
Impressum
Die deutsche Ausgabe von «Stadt aus Glas» erschien 1987 im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, die amerikanische Ausgabe erschien 1985 unter dem Titel «City of Glass» im Verlag Sun & Moon Press, Los Angeles. «Schlagschatten» erschien 1986 unter dem Titel «Ghosts», «Hinter verschlossenen Türen» erschien 1986 unter dem Titel «The Locked Room», ebenfalls im Verlag Sun & Moon Press, Los Angeles.
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2012
Copyright © 1989 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Stadt aus Glas» Copyright © 1987 by Hoffmann & Campe, Hamburg
«City of Glass» Copyright © 1985 by Paul Auster
«Ghosts» Copyright © 1986 by Paul Auster
«The Locked Room» Copyright © 1986 by Paul Auster
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung: HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich
(Abbildung: plainpicture/Jens Haas)
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Buchausgabe 978-3-499-25809-1 (1. Auflage 2012)
ISBN Digitalbuch 978-3-644-46041-6
www.rowohlt-digitalbuch.de
Weitere Kostenlose Bücher