Die niederländische Jungfrau - Roman
Wein, die Säbelfechter bekamen nichts. Sie legten auch keinen Wert darauf. Sie benahmen sich, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt. In der Diele hatte man uns kurz miteinander bekannt gemacht. Danach konnte ich schon nicht mehr sagen, wer Friedrich war und wer Siegbert. Meist sind Zwillinge unterschiedlich groß. Diese nicht. Sie kämmten sich das Haar auf die gleiche Weise. Vielleicht war diese goldene Locke, die sie sich ständig aus dem Gesicht streichen mußten, eine Idee ihrer Mutter. Als Siegbert fragte, ob er auf die Toilette dürfe, sprang auch Friedrich auf, doch seine Mutter sagte: »Fritz, sitzen bleiben.« Ohne seinen Bruder wirkte er aufgeschmissen. Die paar Minuten saß er aus mit einem Blick, als bekäme er keine Luft mehr. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, ein Bild des Jammers. Er aß erst wieder weiter, als Siegbert zurückgekehrt war. Zusammen waren sie am schönsten. Beide hatten die blauen Augen ihrer Mutter und eine makellose Haut mit flaumiger Glut auf den Wangen. Es gab auch Unterschiede, doch die wirkten arrangiert. Während Siegbert ein Muttermal auf der linken Wange hatte, saß es bei Friedrich rechts. Friedrich lächelte wie Siegbert, allerdings mit dem gegenüberliegenden Mundwinkel. Wenn sie lachten, sah ich, daß bei Siegbert oben ein Zahn abgebrochen war, während bei Friedrich unten ein Stückchen fehlte. Sie waren mit chronometrischer Präzision aufeinander abgestimmt. Ihre blassen Hände zerknüllten gleichzeitig ihre Servietten. Sie kauten synchron. Wenn Friedrich Wasser wollte, hatte Siegbert bereits nach der Karaffe gegriffen, bevor nur ein Wort gefallen war. Ihrer Schönheit waren sie sich sehr wohl bewußt. Sie saßen in ihren roten Jacken kerzengerade am Tisch, wie die Herzbuben auf einer Spielkarte.
Leni trug den zweiten Gang auf, den sie mit vorwurfsvoller Stimme ankündigte. Ihr Mann verstand nicht, daß er den Tisch räumen sollte. Was war er doch für eine Mißgeburt, während er in Leni eine richtige Frau hatte, reichlich bedacht mit allem, was nötig war. Er hatte sein zweites Glas erst zur Hälfte geleert, da langte er schon wieder nach der Flasche.
»Gieß mir auch noch mal nach«, sagte die Mutter.
»Wie geht es eigentlich Ihrem Mann?« fragte Heinz.
Leni begann hastig, das Fleisch zu verteilen. »Wenn das nicht reicht, ich habe noch was in der Küche. Der Schlachter schneidet immer zu großzügig ab. Er weiß natürlich,daß ich ihn am Tor nicht zurückschicke, und so macht er seinen Reibach, der Gauner.«
»Ihr Mann war ein toller Sportler«, sagte Heinz, während er dem Hintern seiner Frau auswich. »Im Weitsprung war er der Beste, da kam keiner ran. Am weitesten vom ganzen Verein! Wissen Sie, wo er seine Talente nutzen sollte?«
»Sag schon«, erwiderte die Mutter eisig.
»Bei Kraft durch Freude, da können sie Leute wie ihn gebrauchen. Ausflüge, Freizeitaktivitäten für die Arbeiter organisieren. Sport treiben im Freien und dann, mit frischer Kraft, an die Arbeit fürs Vaterland!« Triumphierend ließ er die Faust auf seine Schmiedeschürze fallen. In der nun eintretenden Stille trank er schnell sein Glas leer, um danach weiterzutönen.
»Denn wir dürfen uns nicht überholen lassen. Wer hat die Medaillen bei der Olympiade abgeräumt: die Neger! So was hätte doch nicht passieren dürfen. Was hat Ihr Mann dazu gesagt?«
»Keine Ahnung, ich habe ihn nicht gefragt.«
»Meine Leni und ich, für uns ist der Zug abgefahren. KdF gab’s damals noch nicht, wir waren nur in der Gewerkschaft. Ach, wie gern hätte ich so eine kleine Reise gemacht. Und wenn auch nur ins Kabarett. Matthias Schmidt hat mir erzählt, daß sie nächsten Monat mit der ganzen Mannschaft an die Ostsee fahren. Können Sie sich das vorstellen? Gratis und umsonst!«
»Matthias Schmidt«, sagte Leni, »der hat den Mund schon immer aufgerissen. Auf Raeren ist es schöner als an der Ostsee. Hab ich recht oder nicht, Herr von Bötticher?«
Von Bötticher kaute mit verzerrtem Gesicht, er kochte vor Wut. Vor ihm flatterten zwei Zickzackzahnspinner,Vorboten der nahenden Abenddämmerung. Jeder andere hätte sie weggeschlagen. Weil von Bötticher sie unbehelligt ließ – vielleicht führten sie ja einen Balztanz auf –, verschafften sie ihm die Glaubwürdigkeit eines Naturmenschen. Neben ihm wirkte Heinz abgerissener denn je. Dieser schwächliche kleine Kuchenbäcker, den es gegen seinen Willen in die Natur verschlagen hatte, nahm sich ganz schön was raus gegenüber der Tischdame
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