Die niederländische Jungfrau - Roman
reiten.
Egon hielt die Hände flach an die Ohren gedrückt, wahrscheinlich hörte er den Text nicht einmal. Julia hatte nach dem Essen das Grammophon auf den Tisch gestellt. Die Schallplatten gehörten ihr. Sie hatte sie mitgebracht, weil »der da« aufgemuntert werden mußte. Aber »der da« blickte hinaus, wo der Regen anhielt, wo die Erde Gerüche verströmte, die er mehr liebte als das Parfüm, das sie aufgelegt hatte. Er wollte weg, durch die Felder streunen, wie ich es öfter beobachtet hatte, wenn es naß war, sich bückend, um sich Dinge an die Nase zu halten, sie mitzunehmen, an den Balken zu trocknen, wo sie von Woche zu Woche anders rochen. An diesem Nachmittag hatte ich ihn vor dem Feuer in der Küche angetroffen, wo er auf einem der zähen Pilze herumkaute, die an Schnüren von der Decke baumelten. Er ließ mich probieren. Es waren noch nicht die schwarzen, verschrumpelten Schattengebilde, aus denen man so eine pervers riechende Bouillon kochen konnte. Diese waren noch feucht, erinnerten an weiche Erde, vermoderten Baumstumpf, das Fell eines Rammlers. Das waren seine Gerüche, doch Julia betäubte uns mit einem Dekolleté, das vom fetten Alkohol glänzte. L’Heure Bleue.Ein altes Parfüm, am Vorabend des Ersten Weltkriegs kreiert, als die Sonne unterging und der Himmel sich blau färbte. Ihr Kleid dagegen war neu, und teuer. Der dünne Crêpe lag wie Wasser auf ihrem Körper. Sie wußte, daß wir ihr alle nachschauten, wenn sie durch den Saal spazierte und den schwarzen Stoff mit den Fußrücken hochfliegen ließ, wenn sie die Arme ausbreitete und die Ärmel an ihren Schultern auffielen. Sie kurbelte noch einmal am Grammophon, worauf die schleppende Stimme von Richard Tauber einen neuen Anlauf nahm:
Uniform passé, Liebchen sagt Adieu,
schöne Welt, du gingst in Fransen.
Wenn das Herz dir auch bricht,
mach ein lachendes Gesicht!
Man zahlt, und du mußt tanzen.
»Hörst du, Egon«, rief sie, das Ensemble übertönend, »du mußt tanzen, Husar, ich habe bezahlt!«
Zu meiner völligen Verblüffung erhob er sich. Sie wurde noch größer, als er nach ihrer Hand faßte, die andere legte sie locker auf seine Schulter, sein Arm lag unten an ihrem Rücken. Plötzlich war ihr kokettes Lächeln verschwunden. Sie blickte ihm unverwandt in die Augen, darin sah sie, was er einst gesehen hatte: sie, irgendwann, irgendwo, mit ihm. Dann versank sie in ihrer ausgeleierten Vergangenheit. Leni, die sich zögernd zu uns gesetzt hatte, hatte den gleichen nachdenklichen Blick. Und selbst Heinz, eine Leinenserviette zwischen den schwarzen Fingern, erinnerte sich an alles mögliche, was ihm den Ernst verlieh, mit dem er vor langer Zeit nach Hause zurückgekehrt war, den Gesichtsausdruck, der ihn damals für eineFrau anziehend gemacht hatte. Nur die Zwillinge veränderten sich nicht. Es schien, als hätten sie keine Vergangenheit. Wie Tiere, nur beschäftigt mit dem Hier und Jetzt, miteinander, mit ein paar mechanischen Handlungen. Ihre gemeinsamen Angewohnheiten gingen mir allmählich auf die Nerven. Ich war nicht viel älter als sie, wußte aber wenigstens etwas von früher. Und das hatte ich nicht aus Filmen. Ich wußte mehr, als auch nur irgendeiner der Anwesenden ahnte, und ich würde noch viel mehr in Erfahrung bringen. All die Dinge, die für die Älteren vorbei waren, die durch deren wehmütiges Kratzen ausgehöhlt worden waren, bis nur noch eine trockene Kruste übrig war, lagen noch frisch und duftend vor mir. Es gab Worte, die Egon geschrieben hatte, als er so alt war wie ich, die jedoch noch warm waren, gut erhalten in zugeklebtem Papier. Im Weg stand lediglich eine Tür.
Egon machte ein paar Schritte, sie ließ sich führen. Er setzte die Beine links und rechts auf das Parkett, sie bewegte sich rückwärts. Das war kein Tanzen. So tappt man, wenn man eine dunkle Treppe hinuntersteigt und nicht sieht, welche Stufe die letzte ist. Die Musik war zu Ende. Die Nadel kratzte gnadenlos über das Papieretikett, das Paar stand still. Sie sahen einander nicht an, wie Backfische und Milchbärte, die nicht wissen, was nach dem Tanzen geschehen soll. Auf Egon und Julia wartete nichts mehr. Sie waren mit einer Geschichte belastet, über die das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Daher war es besser, zu schweigen.
»Sigi, such mal was Fröhliches aus«, sagte Julia schließlich und ging ans Fenster. Siegbert sprang auf, das schöne Rehkitz. Er hatte seine Mutter keinen Augenblick aus den Augen gelassen,
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