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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Daumen in die Höhe. Manchmal erteilte er Anweisungen, wenn ich mich abmühte. Wenn ich im Galopp den Sattel auswischte, sagte er: »Becken kippen!«, und wehmütig dachte ich daran, wie er mich an sich gezogen hatte.
    Die erste Frage würde ich mit einer Gegenfrage kontern. Rätsel gab es genug. Leider ließ niemand sich zu diesem Tauschhandel verleiten. Auch Leni nicht, also brauchte sie nicht zu denken, ich würde ihr noch länger beim Bettenmachen helfen. Ich lehnte mich zurück und starrte auf ihre straffgespannte Schürze, in der die Schlüssel zu der Tür steckten, die für den Rest des Monats verschlossen bleiben würde. Jeden Tag rüttelte ich vergebens an der Klinke. Es gab keine Gelegenheit, den Brief gegen einen anderen zu tauschen. Eines regnerischen Abends erschienen die Studenten, allerdings ohne den Paukarzt, der genauso neugierig gewesen war wie ich. An seiner Stelle war ein schweigender Kahlkopf gekommen, der zu Fuß am Tor erschienen war und so auch wieder verschwand, nachdem er mit blutverschmierter Hand ein Glas Wasser getrunken hatte. Schließlich fand ich mich mit dem Schweigen auf Raeren und dem meiner Tagträume ab, die gekränkt ausblieben, seit sie von der Realität übertrumpft worden waren.
     
    Der Sommer war vorbei. Die Tage wurden kürzer. Ich erzählte den Zwillingen ein Märchen. Wir lagen im Straußgras, ich in der Mitte: »Ich weiß etwas vom Golem, was ihr nicht wißt.«
    Sie sahen ulkig aus, so von unten. Die Sonne hatte ihnen Sommersprossen geschenkt, und als sie jetzt so dicht über mir waren, konnte ich es nicht lassen, sie zu zählen. Siegbert hatte mehr als Friedrich. Ich wollte hineinbeißen, in ihre Katzenwangen aus Marzipan.
    »Erzähl.«
    »Er hat am Bein eine noch viel größere Narbe. Sie läuft von hier …«, ich zog mein Kleid hoch, sie rissen gleichzeitig die Augen auf, »… bis hier. Wie eine Wagenspur. Aus seiner Schulter ist ein Stück herausgeschnitten …«
    »Der Stern!« rief Friedrich. »Genau wie in dem Film, beim Golem ist ein Stern aus der Brust geschnitten!«
    Er bekam einen Schubs von Siegbert, der den Blick unverwandt auf meine nackten Oberschenkel geheftet hielt. Wind kam auf. In der Ferne ertönte wieder dieses unheilverkündende Brüllen. Vielleicht war es ja gar keine Kuh, sondern ein steuerlos treibendes Schiff. Heinz hatte uns davor gewarnt. In dieser Jahreszeit, bei diesem Wetter, sei alles möglich, man müsse sich nicht wundern, wenn bleiche Subjekte in Nachthemden an der Wand entlangschwebten, wenn verstorbene Aristokraten vor einem die Treppe hinaufgingen. Heinz bewunderte sich selbst ob dieser Begegnungen, die uns anderen erspart blieben. Wir sahen nur den Kuhgeist. Wenn wir abends alle lange genug auf der Terrasse blieben, konnte sogar der Meister ihn ausmachen. Er erschien nie auf ein Mal. Zuerst gab es Getrampel und Geschmatze, dann weiße Flecken, einen nach dem anderen, und erst ganz zuletzt den ganzen Körper. Wenn wir näher kamen, löste er sich wieder in der Dunkelheit auf. Neugierig und scheu zugleich, wie Kühe nun mal sind. Deshalb machten wir uns nach einer Weile nicht einmal mehr die Mühe, vom Tisch aufzustehen, wenn er kam. Nur Friedrich suchte weiter, in seiner Unschuld umhertastend, genauso wie er mich, mit einer Hand auf meiner linken Brust, ermunterte, weiterzuerzählen.
    »In der Tat, es hatte die Form eines Sterns«, fuhr ich fort. »Ungefähr so groß. Mit einer Scherbe herausgeschnitten. Als ich daraufdrückte, kam ich nicht mehr von ihm los. Seitdem ist der Golem drin. In mir, versteht ihr?«
    Siegbert klappte der Unterkiefer herunter vor Staunen. Nicht wegen meiner Worte, sondern wegen der Hand seines Bruders, die in meinem Hemd verschwand wie eine Forelle im Kescher. Vorsichtig nahm er sich der anderen Seite an. Während sie simultan meinen Körper erkundeten, spürte ich, wie täppisch mein frisch erworbenes Erwachsensein im Grunde war. Ich war höchstens ein Jahr älter als sie, aber nicht mehr das emanzipierte Mädchen mit dem Florett. Mein Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen, daß etwas vorbei war. Ich war mir sicher, Helene Mayer hätte sich nie von einem Mann überwältigen lassen, der sein Gesicht von ihrem abwandte und den Mund für all das geschlossen hielt, was in der Liebe wichtig ist. Ich schluckte und riß die Augen auf. Es war wirklich wahr. Ich bekam meinen ersten Kuß von einem zweiköpfigen Engel mit warm durchbluteten Lippen.
    »Und was passierte dann?« flüsterten sie rasch. Sie

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