Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
normale Kinder aus dem Dorf«, sagte Julia plötzlich. Sie hatte mit sich selbst gesprochen, im Spiegel. »Einfache Dorfkinder, mit denen haben wir gespielt. Wir haben sie als Soldaten verkleidet. Mama hatte maßgeschneiderte Uniformen für sie anfertigen lassen. Graugrüne Waffenröcke, Landeskokarden an den Mützen. Richtig niedlich haben sie ausgesehen. Mein Bruder und ich, wir saßen zu Pferde, und sie marschierten hinter uns her. Als der Krieg ausbrach, hat die kleine Lydia das gleiche gemacht, aber da hatte Mama die Uniformen durch die moderne Ausstaffierung ersetzen lassen. Das Schätzchen trug eine kleine Pickelhaube und genau die gleiche Patronentasche wie du, als du damals ins Feld gezogen bist, Egon, mein Fahnenjunker! Ach, hatten wir einen Spaß!«
    Leni band sich langsam die Schürze los, ich horchte auf wie ein Hund, als ich die Schlüssel hörte. Als sie mit der Bratenschale zurückkam, trug sie keine Schürze mehr, aber in der Küche konnte ich sie nicht finden. Es war sehr dunkel. Der Mond schien vorsichtig herein, und im Herd krochen kleine Flammen an den Rändern eines Holzklotzes entlang. Gastrosophie . Das Buch lag neben dem Spülstein, aufgeschlagen. Leni hatte danach gekocht. Das Rupfen, Einreiben, Füllen der Hühner, das Herausreißen ihrer Beine und Abdrehen der Flügel – war das Gastrosophie? Die aufgeschlagenen Seiten zeigten ein ausgebeintes Rind. Die strenge Hand, die demonstrierte, wie man vorzugehenhatte. Mein Vater hatte sich mit einem Schlachter aus der Nachbarschaft angefreundet. Ein ernster Mann, der nie Scherze über seine Arbeit machte, nicht wie mein Vater oder andere Ärzte, die zu uns zu Besuch kamen, niemals. Leo hatte schlaflose Nächte, wenn er fürchtete, es könnten sich Luftlöcher in einen Schweinedarm geschlichen haben, weshalb er die Wurst nicht würde anschneiden können. Er hätte das Leidenschaft genannt. Welches Tier aber zerteilt seine Beute so wohlüberlegt wie der Mensch? Metzeln nicht alle Tiere einander als Ganzes, heftig, die Augen vor lauter Emotion blutunterlaufen?
    Ich schlug das Buch zu. Vielleicht hatte Leni ihre Schürze ja in der Kammer aufgehängt, die etwas höher, im Halbgeschoß, lag. Ich wußte, daß sie viel Zeit hinter der kleinen Tür neben der Spüle verbrachte, daß dort eine Laterne hing, die ich anzünden müßte, doch weiter als bis zu den ersten Stufen, wo die Zwiebeln hingen, war ich nie gekommen. Es roch dort würzig. Auf einem Regalbrett an der Wand lag ein aufgeschlagenes Buch auf den Weckgläsern, ein Frauenroman der Baronesse von Eschstruth. Am Ende der Treppe stieß ich auf einen Korb mit Kartoffeln, von denen die obersten formlos und grau geworden waren, wie ein Haufen Trunkenbolde. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich sah einen großen Kabinenkoffer mit Büchern, alle feucht und krumm, einen Spiegel, dem ganze Stücke seines Silbers fehlten, einen Kasten mit rostigen Säbeln und einen ausgestopften panischen Hasen mit einem Loch im Rücken. Ich wollte mich schon wieder umdrehen, als ich in der Ecke eine magere Gestalt wahrnahm. Wenn man den eigenen Atem nicht mehr hören kann, weil das Herz zu laut hämmert, sollte man besser weitergehen. Wie damals, als ich auf einemdunklen Hohlweg zum Haus meiner Oma gehen mußte. Ich beschloß, nicht zu erforschen, woher diese schlurfenden Geräusche kamen, ich wollte nicht sehen, was genau diese weißen Umrisse waren. Doch Neugier verfolgt einen viel länger als Angst. Ich blieb noch monatelang auf der Suche nach diesem vagen Bild am Wegesrand und sah es nie wieder. Jetzt hielt ich die Laterne höher. Die Gestalt entpuppte sich als Garderobenständer, an dem ein einziger Gegenstand hing: Egons Totenkopfmütze. Von oben ertönte wieder schallendes Gelächter, es kam näher, anscheinend verließen sie den Fechtsaal. Die Zwillinge riefen meinen Namen. »Es ist nur für eine Woche«, hörte ich Julia sagen, »laßt das Mädchen in Ruhe.«
    Das Fell roch angenehm, fühlte sich weich an auf meiner Stirn. Als ich den Spiegel aufhob, erkannte ich sie sofort: die Tochter des letzten Kaisers. Das gleiche Bild wie das in der Zeitschrift. Dieses leicht spöttische, überhaupt nicht verlegene Gesicht zwischen Totenkopf und betreßtem Kragen, die behandschuhte Prinzessinnenhand in die Seite gestemmt. Ein Verkleidungsspiel, ähnlich wie jenes, mit dem Julia sich als Kind amüsiert hatte. Adlige Damen, die sich aus Querköpfigkeit, Langeweile oder Groll einen Scherz mit dem Krieg

Weitere Kostenlose Bücher