Die niederländische Jungfrau - Roman
Worte verflüchtigten sich mit einem verzweifelten Flüstern, andere hielten stand, bis sie schwarz waren. Ich glaube, daß ich ihren Namen verglühen sah wie einen Nachtfalter über einer Kerze.
Januar 1917
Lieber Jacq,
ich bin für immer verloren. Wann bin ich hierhergekommen? Ich weiß es schon nicht mehr. Bevor der Winter zuschlug, das ist sicher. Die Gewässer waren noch nicht zugefroren. Die hohen Bäume entlang den Ufern rauschten. Ich wurde über die Zugbrücke hineingeführt, zwischen vier Bütteln, wie ein Ganove. Ihre ernsten Augen unter den Helmen sahen nicht mal, daß ich dem Bärtigen vorneweg den Säbel aus der Scheide zog. Fingerfertig, Du kennst mich. Ich mußte lachen, es war alles so theatralisch. Die staubigen Büttel vor der Kulisse einer Festung aus dem siebzehnten Jahrhundert mit Bastionen und Pulverkammern … ich freute mich schon auf eine Bestürmung durch den Duc de Luxembourg. Aber als das Tor zufiel, wurde es so still, so endgültig still. Kahle Bäume rauschen nicht, und auf dem Rhein liegt jetzt ein kalter Spiegel. Sie haben Angst, daß ich wieder ausbreche. Die Flucht aus Bergen war natürlich ein Kinderspiel, auch wenn sie mich geschnappt haben. Hier ist es schon zweimal mißglückt. Sie schossen uns über das Eis zurück wie die Enten, steckten uns noch tiefer in den Bau. Weißt Du, wie dick die Türen hier sind? Vor meiner hält ständig so eine Vogelscheuche Wache. Er geht mir auf die Nerven. Nachts dröhnt die Luft von seinem Geschnarche. Ich sollte ihn erwürgen, ihm mit zwei Fingern den Kehlkopf zerquetschen. Im letzten Jahr, hat man mir erzählt, ging es hier noch ganz anders zu. Die Atmosphäre war gemütlich, die Offiziere wurden kaum bewacht. Angeblich ist ein Leutnant aus Braunschweig in einem Koffer entkommen. Stell Dir vor, er hatte das Ding aus dem Zimmer des Lagerkommandanten gestohlen. Das ist so ein typischer Holländer,der sich die Uniform noch nie schmutzig gemacht hat. Die Holländer riechen nach Stärke und Kupferputzmittel, die Fäden der Nähstube hängen noch dran, und falls doch einmal ein Fleck darauf ist, dann von all dem Essen, das sie den lieben langen Tag über in sich hineinstopfen. Ein Kasperletheater ist das, mit dem geschlossenen Tor als Vorhang.
Christian, ein Kamerad aus Koblenz, sagt: Wir kriegen die schon noch. Er ist ein fanatischer Hasardeur, setzt sich locker über die Risiken hinweg, weil er denkt, es gibt einen Gewinn, den er irgendwann einmal einstreichen wird. Aber ich weiß nicht, ob ich noch mehr Demütigungen ertragen kann. Wieder hineingeschleift zu werden, die Türen mit diesem entsetzlichen Knirschen des Riegels hinter mir zugehen zu hören, nein, ich glaube, ich würde verrückt. Ich werde jeden Tag zorniger. Wie gut ich Edmond Dantès verstehe! Rache ist die einzige Erfüllung in einem Leben so leer wie dieses. In der Zelle, wo der Tag keinen Anfang und kein Ende hat, halte ich mir den Kopf klar mit Gedanken an Genugtuung. Mit der Flucht aus Bergen habe ich lediglich die Pflicht gegenüber meinem Vaterland erfüllt. Der einzige Holländer, dem ich mich verpflichtet fühle, ist der Bauer, für den ich gearbeitet habe. Ein guter Mensch. Er wußte unsere Hilfe zu schätzen, das Essen, das seine Frau uns vorsetzte, war mit Liebe zubereitet. Von der Situation hat er nicht viel begriffen. Warum ich nicht in den Krieg zurückdurfte und schon gar nicht, warum ich zurückwollte, aber er ist so ein Mann, der es sich selbst erlaubt, nicht alles zu verstehen. Ein richtiger Bauer, der sich nicht über das Leben wundert, das um ihn herum entsteht oder endet. Ich erinnere mich an die Geburt eines Kalbes auf seinem Feld, eine Woche vor meiner Flucht. Die Mutter graste einfach weiter, als wäre nichts los, der Bauer zeigte auf die heraushängende Fruchtblase und sagte: »Da kommt wasKleines«, und fuhr mit seiner Arbeit fort. Als ich eine Stunde später zurückkam, stand das Kalb da, alle vier Beine auf der Erde, und sah sich mit weitaufgesperrten Augen um. Der Bauer arbeitete noch immer, die Kuh käute unbeirrt wieder. Nur ich und das Kalb staunten über das neue Leben.
Als ich floh, spürte ich, daß der Bauer mir nachsah. Ich ließ ihn auf dem Feld zurück mit zweihundert Strohballen, die noch auf den Wagen geladen werden mußten. Er wußte genau, was ich vorhatte, als ich meine Gabel in die Erde stach. Seine Augen bohrten sich in meinen Rücken, genauso wie meine gebohrt hatten, bevor sie an jenem verhängnisvollen Augusttag
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