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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Stück Leiche, darum wartet man, bis der Rigor mortis vorbei ist. Sonst kann man es nicht kauen. Eigentlich muß man so einen Hirsch abhängen lassen, bis er vom Haken fällt. Das Eiweiß zersetzt sich, und das Fleisch wird zart. Findest du das eklig? Eskimos füllen einen geschlachteten Seehund mit toten Vögeln, sogar ohne sie vorher zu rupfen, und lassen das Ganze ein halbes Jahr liegen, bis es fermentiert.«
    Schon wieder diese Geschichten, die er vielleicht nur mir erzählte, weil er es genoß, wenn ich Mühe mit dem Schlucken bekam.
    »Es soll köstlich sein. Ein köstlicher, dekadenter Fäulnisprozeß. Denk an französischen Schimmelkäse.«
    »Mein Vater wirft Käse weg, wenn er angeschimmelt ist.«
    Er grinste kopfschüttelnd. »Ein Arzt müßte doch wissen, wie nützlich Schimmelpilze sind. Man muß nur in den Wald gehen. Wohin man schaut, überall wächst neues Leben aus der Fäulnis. Auf morschen Stümpfen wachsen Moose, Tiere fressen Pilze. In der Natur wird selten etwas vom Boden aus aufgebaut, immer wird etwas Altes benutzt, eine Ruine, ein altes Gerippe. Aber die Menschen hören nicht auf die Natur, sie hören auf eine Handvoll anderer Menschen, die sagen, daß alles neu und anders werden muß.«
    Er begann, das Fleisch in Stücke zu schneiden. »Weißt du, was so schön ist? Worüber ich mich wirklich freuen kann … wo ist die verdammte Pfeffermühle?!«
    Grob schob er Gustav vom Hackklotz herunter. Das Kaninchen landete unsanft auf dem Küchenfußboden, schüttelte aber nur kurz die Ohren und hoppelte munter los. Egon hatte die Pfeffermühle gefunden und begann wüst zu drehen. »Worüber ich mich wirklich freuen kann, ist, wenn die Natur ihren Gang geht, wenn sie alles, was aufgebaut wurde, wieder kaputtmacht. Stell mal etwas, was der Mensch gemacht hat, ein Möbelstück oder so, mitten zwischen die Bäume. In kürzester Zeit ist es morsch, überwuchert, angefressen. Oder, noch schöner: Stell es zwischen Tiere. Tiere machen gern Dinge kaputt. Gib einem Hund, einem Pferd, einer Kuh einen von uns fabrizierten Gegenstand, und am nächsten Tag ist er zertrampelt, demoliert, zerbissen. Nichts bleibt heil, sowie sie es in die Pfoten bekommen. Vor allem Kleidungsstücke, über die machen sie sich besonders gern her. Vielleicht weil sie nach uns riechen, weil sie uns auf diese Weise nah sein wollen oder, noch lieber, wir sein wollen. Man ist, was man ißt. Das ist das einzige, was ihnen bleibt: unser Gleichmaß verschlingen, unseren Schaffensdrang zerstampfen, unsere Regeln, die wir uns ausgedacht haben, um uns dem Tod entgegenzustellen.«
    »Wie das Angriffsrecht?«
    »Das Angriffsrecht …« Er schüttelte den Kopf. »Das Angriffsrecht, was du nicht sagst.«
    Unvermittelt packte er mich an einem Rückenwirbel. Ein scharfer, alarmierender Schmerz, nach dem man instinktiv schlägt. Er sollte jetzt wirklich aufhören mit diesem Blödsinn.
    »So töten Bären einen Menschen. Wußtest du das? Sie brauchen uns nur an diesem hilflosen, gestreckten Rückgrat zu packen und es herauszureißen, so wie wir einen Fisch filetieren.«
    Ich drehte mich zu ihm hin, er machte ein Gesicht, als wäre ich eine Fremde, und ich dachte wohlweislich gar nicht erst daran, ihn zu küssen. Ähnliche Situationen hatten sich bereits ein paarmal ergeben. Nachts waren wir uns beide stillschweigend darin einig, daß wir keine Worte zu verschwenden brauchten, doch am Tag konnte ich selbst so etwas wie einen verständnisinnigen Blick vergessen. Weil ich nichts bekam, mußte ich immer durchtriebener werden.
    Also
     habe ich alle seine Briefe verbrannt. Wenn er schlief,
     trat ich in Aktion, nahm ich seine Worte in mir auf,
     bevor sie in den Flammen verschwanden. Alles habe ich
     verbrannt, sogar den großen Umschlag, auf dem »Poste
     restante« geschrieben stand. Nur der Brief, den er im
     Bau geschrieben hatte, durfte bleiben. Von ihm konnte
     ich nicht genug kriegen! Er sei verloren, hieß es gleich
     am Anfang. Er stand kurz davor, verrückt zu werden,
     hatte sich nicht mehr in der Hand, wie in diesen kurzen
     Momenten, die ich bei ihm kannte, aber was noch
     wunderbarer war: In diesem Verzweiflungsschrei kam sie nicht vor. Julia wurde kein
     einziges Mal von meinem Romanhelden in seinem Kerker
     erwähnt. Der Graf von Monte Christo, der sich von seinem
     Mitgefangenen in der Wissenschaft schulen, sich aber nie
     von seiner Rache abbringen ließ, was hätte mein Vater
     davon wohl gehalten? Ob Egon schon damals den Brief
     gelesen

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