Die niederländische Jungfrau - Roman
1914 zufielen. Das weiß ich noch: Ich liege im Sand, kaltes Blut strömt über mein versengtes Gesicht. Ich richte mich auf, blicke ihnen nach, aber sie schauen sich nicht nach mir um. Sie ziehen weiter, in alle Richtungen. Manche ohne Pferd, andere im Sattel baumelnd, Halbtote und Tote, schweigend, brüllend, zuckend. Ein bestürzendes, makabres Schauspiel, ausgeheckt von den Belgiern, die sich nicht um die Regeln scheren. Sie hatten Drahtverhaue errichtet, an denen sich unsere Pferde zuschanden galoppierten. Danach waren sie eine leichte Beute für die unentwegt ratternden Maschinengewehre. In den Staubwolken sah ich sie zu Boden stürzen, unsere treuen, starken Reittiere, so ohrenbetäubend schreiend, daß niemand es als Wiehern erkannte. Das letzte, woran ich mich erinnere, war sie. Meine Fidèle. Sie stand unverletzt in der Vorhut, etwas weiter als das brennende Gehöft, von dem aus wir beschossen wurden. Nur ihre reglosen Umrisse, aber ich war mir sicher, daß sie es war. Kein anderes Pferd steht so würdig auf seinen Hufen. Eigentlich kenne ich sie nicht anders denn als Silhouette: pechschwarz, immer der Sonne voraus. Sie war ein Trakehner, auf Ausdauer gezüchtet. Es heißt, diese Schlacht sei der Beweis dafür, daß die Kavallerie endgültig der Vergangenheit angehöre. Daß wir keine Chance gegen das Schnellfeuer und die schweren Geschütze hätten. Wenn das stimmt, wird es nicht an Fidèle gelegen haben, sondern an mir, dem Reiter im Sand.
Ich weiß ganz genau, wie es ist, jemandem nachzuschauen oder die Blicke eines anderen im Rücken zu spüren. Damit werde ich leben müssen. Und Du, Jacq? Du hast gelogen und lügst noch immer, das wissen wir beide. Ich sitze hier, Du sitzt da, und Du wirst erst reden, wenn der Krieg vorbei ist. Du studierst, um Wunden zu heilen, aber ich sage Dir, ich werde sie wieder aufreißen. Ich werde mein Angriffsrecht einfordern. Es wird einen neuen Krieg geben, einen, der besser ist als dieser. Keine anonymen Kugeln von Franktireuren, sondern Duelle Mann gegen Mann. Einen ordentlichen Krieg. In dem die Tage vergehen, wie die Regeln es vorsehen. Weißt Du, ich habe nie so gut geschlafen wie im Feldlager. Das ist die vollkommene Ordnung im Chaos, das Regelmaß einer gut vorbereiteten Nacht nach einem Tag, an dem nichts vorherzusehen war. Jetzt schlafe ich schlecht, zwischen diesen Mauern. Sie sind kalt und feucht wie die Wangen dieser Verräterin, deren Name es nicht wert ist, noch genannt zu werden. Sie hat ein paar Tränen auf ihren letzten Brief fallen lassen, vielleicht waren es nur Wassertropfen, schließlich ist sie Schauspielerin. Manchmal, hier, lege ich meine Wange an ihre, und dann spüre ich den schimmligen Kalk, die weiße Schminke auf diesem falschen Gesicht, ist es die Wand, oder ist es mein zerbröselndes Skelett, der Staub meines dahinschwindenden Verstandes? Ach, Geschwätz eines Wahnsinnigen … Fidèle, laß uns von ihr sprechen. Wo ist sie, Jacq, suchst Du nach ihr? Das ist doch wohl das mindeste, was Du tun kannst.
4
Ein Windstoß riß mir den Brief aus den Händen. Dicht über dem Gras wirbelte ein Blatt davon, immer knapp außer Reichweite. Vom Sommer war nichts mehr geblieben. Nebelfetzen, lang wie Brautschleier, trieben vom Teich her entlang der Mauer, wo sie sich auf den Rücken der angebundenen Pferde auflösten. Alle Farben hatten sich verändert. Langsam zog sich das Leben aus den Blättern zurück, wie die Tinte aus einer beschriebenen Seite, die zu lang in der Sonne gelegen hat. Nur die Apfelbäume mit ihren triumphalen Früchten waren noch scharf umrissen. Aus dem Nebel kam Heinz daher, Megaira begrüßte ihn mit lautem Wiehern. Sie schwenkte den Kopf und trat gegen den Zaun, an dem sie angebunden war.
»Ruhig, paß auf deine Hufe auf«, hörte ich ihn sagen. Er hatte eine Bürste mitgebracht, die er mit weitausholenden Bewegungen über ihre Flanken zog. »Du hast noch viel vor dir mit deinen Hufen. Mußt noch die ganze Welt erobern, schneller als das Sperrfeuer, damit die Menschen wissen, daß sie die Kavallerie fürchten müssen.«
Vielleicht sagte er aber auch etwas ganz anderes. Der Wind nahm ihm die Worte aus dem Mund und trieb sie davon, man konnte aus ihnen machen, was man wollte. Ich wollte gern, daß er so zu dem Pferd sprach, das einem anderen Pferd glich, einem Schatten, der sich nicht hatte fangen, geschweige denn an einem Halfter hatte wegführen lassen. Vor vierzehn Jahren hatte von Bötticher die Suche aufgegeben und eine
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