Der Wunschzettelzauber
1
Katzen brauchen furchtbar viel Musik
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte Chloe und gab sich Mühe, eine ernste Miene zu wahren, während sie Nicolas in die Augen blickte. Mit seinen vier Jahren war ihr Sohn bereits ein routinierter Kinogänger, was seinen französischen Vater entzückt hätte. Nicolasâ haselnussbraune Augen und sein Näschen waren alles, was Chloe von ihm zwischen seiner Strickmütze und der Tischkante ihres höchst offiziellen Kinokassenschalters erspähen konnte â sie hatten dafür einen spindelbeinigen Schreibtisch aus dem Wohnzimmer in die Diele geholt. Nicolas, der pedantisch auf Einhaltung der Details bedacht war, wenn sie ihre »So-tun-als-ob«-Spiele spielten, hatte darauf bestanden, Anorak und Mütze zu tragen, so als hätte er wirklich von der StraÃe aus ein Kino betreten.
Nun stand er in der gefliesten Diele, während seine Mutter in Pyjama und Morgenmantel, die rote Mähne mit einer Haarspange zusammengesteckt, hinter dem Tisch saà und »Kartenverkäuferin« spielte.
Chloe liebte es, sich mit Nicolas zu verkleiden, vor allem, wenn sie drauÃen im Garten als Piraten auf Schatzsuche gingen. Man hatte sie schon mit Mickymaus-Ohren zum Supermarkt und sogar zur Arbeit gehen sehen â alles ihrem Sohn zuliebe. In solchen Augenblicken war sie froh, dass sie früher in der Modebranche gearbeitet hatte, wo Kleidungsstücke, die objektiv betrachtet lächerlich waren, als »extrem hipp« gegolten hatten. Solch ein Wissen erwies sich als Mutter eines fantasievollen Knirpses als überaus nützlich.
An diesem faulen, regnerischen Sonntagmorgen aber war ihr gestattet worden, mit eigenen Kleidungsstücken zu improvisieren, da Nicolas einsah, dass die Kinorequisiten für ihre Rolle wichtiger waren als ein Kostüm. Auf dem Tisch stand eine Spielzeug-Registrierkasse, gefüllt mit Plastikmünzen. Daneben lagen eine kleine Taschenlampe und ein langer, bunt gefärbter Papierstreifen, die »Kinokarten«, die Mutter und Sohn zuvor gebastelt hatten.
Chloe schenkte ihrem unentschlossenen Kinogast ein mitfühlendes Lächeln. »Können Sie sich nicht entscheiden?«, fragte sie und deutete dabei auf einen unsichtbaren blauen Bildschirm hinter sich, auf dem das Fantasie-Kinoprogramm gezeigt wurde. »Wir hätten da Triff die Robinsons  â der Film handelt von einem Waisenjungen, der einen Gedankenscanner erfindet und in die Zukunft reist. Ich glaube, der würde Ihnen gefallen, Sir. Die Vorstellung fängt in fünf Minuten an, das heiÃt, zuerst kommen natürlich die Vorankündigungen, Sie haben also noch Zeit, nur keine Eile. Dann läuft da Toy Story 3 , das ist immer ein Kassenschlager.« Sie hob einen Arm gen Himmel und deklamierte dramatisch: »Bis in alle Ewigkeit und darüber hinaaaus!«
Nicolas grinste unter seiner Verkleidung. Chloe erkannte es daran, dass seine Augen sich zu bananenartig gekrümmten Schlitzen zusammenzogen.
»Aaah, Buzz Lightyear ⦠welch ein Held!« Chloe tat, als fächelte sie sich Luft zu, und fuhr dann ruhiger fort: »Und der beginnt ⦠jawoll, auch in fünf Minuten. Oder , falls Ihnen nach etwas Anspruchsvollerem zumute ist, nach etwas, das sozusagen in adeligen Kreisen spielt, dann hätten wir die Aristocats  â in unserer Reihe der Klassiker.« Sie machte viel Aufhebens davon, auf ihre Armbanduhr zu blicken. »Nun, erstaunlicherweise fängt der auch in fünf Minuten an. Tja, Sir, jetzt wäre es an der Zeit, sich zu entscheiden.«
»Einmal die Aristocats, bitte«, erklärte Nicolas und schob eine Spielzeug-Kreditkarte über den Tisch.
» Vielen Dank, Sir! Eine ausgezeichnete Wahl. Katzen brauchen fuuurchtbar viel Musik â¦Â«, sang Chloe und führte die Kreditkarte mit einem lauten Ping durch den Schlitz der Registrierkasse. Sie schob sich eine ungebärdige rote Haarsträhne hinter das Ohr und warf Nicolas ein um Geduld bittendes Lächeln zu. Dann summte sie einen Moment lang vor sich hin und riss schlieÃlich mit einem lauten Zungenschnalzen zuerst eine blaue Eintrittskarte mit aufgeklebtem Dinosaurierbild für ihren jungen Kinogast ab und dann eine rosafarbene mit einem Goldfisch für sich selbst.
»Das sind die Geräusche des Kartenapparats«, murmelte sie mit unterdrückter Stimme durch den Mundwinkel. »Falls du dich darüber
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