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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Amsterdam. Alles, was Rang und Namen hatte in den Niederlanden zu jener Zeit, ging bei ihm in die Lehre. Heute sagt sein Name fast niemandem mehr etwas. Mein niederländischer Freund besaß ein paar Stiche von ihm, er hat mir einiges erläutert. Wenn man die Thibault-Methode wirklich befolgen will, muß man ziemlich viel Geduld aufbringen, doch am Ende wird es sich auszahlen. Wir dürfen uns nicht davon abhalten lassen, daß es bereits im siebzehnten Jahrhundert geschrieben wurde. Es würde uns auch heute noch sehr gut zupaß kommen. Gerade heute. In diesen Zeiten …«
    Egon betrat den Saal und schaute sofort zu mir. Nicht böse, aber das hatte er auch nicht getan, als der Unparteiische ihn beleidigte. Ich lächelte sicherheitshalber, er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und wandte sich dann an den Arzt.
    »Das habe ich von ihrem Vater bekommen. Er hat es seiner Tochter mitgegeben.«
    Der Professor setzte die Brille ab und starrte von oben auf die Abbildung.
    »Ja! Verflixt! Das stammt aus der Schule von Thibault! So was aber auch. Es gibt noch viele von diesen Bildern, wissen Sie, Hunderte. Es ist nämlich ein ganzes Buch. Der Vater des Mädchens hier, der Arzt aus Maastricht? Das wundert mich gar nicht, denn der Vater aller Ärzte, Hippokrates, hat einmal gesagt: Der menschliche Körper ist ein Kreis. Wir Ärzte verstehen so etwas.«
    Mit dem Zeigefinger fuhr er die geometrischen Figuren auf dem Stich nach. Als ich über seine Schulter schaute, sah ich, daß die Männerfigur einen Degen vor seinem zur Hälfte sezierten Körper trug. Der Griff ging ihm bis zum Brustkorb und die Spitze bis zu der Kreislinie, in die er eingefügt war, von diesem Punkt waren Linien gezogen, über die ein Pfad von Fußabdrücken verlief. EX HOC CIRCULO ICTUS MOTU TOTIUS BRACHII VIBRATUR, stand in einem Kreis geschrieben.
    »Alles in unserem Körper verläuft in Kreisen«, fuhr der Otter fort. »Unsere Bewegungen, unsere Atmung, sogar unsere Gedanken. Auch Gelenke bewegen sich nicht hin und her, sondern drehen sich.«
    Er streckte die Hände vor. Ich bemerkte erst jetzt seinen Ehering, eingeschnitten ins Fleisch seiner linken Hand, wie der Kragen eines balzenden Täuberichs. Eine lange Ehe. Er muß charmant gewesen sein als Bräutigam.
    »Sehen Sie, wir sind eine perfekte geometrische, numerische Einheit«, sagte er. »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, das hat schon Protagoras gesagt. Schlagen Sie es in der Bibel nach: Die Arche Noah ist nach den Proportionen des menschlichen Körpers gebaut. Dreihundert Ellen lang, fünfzig breit, dreißig dick und zehn tief. Das ist die göttliche Proportion, die der gesamten Schöpfung zugrunde liegt.«
    »Komm zur Sache«, meinte Egon stirnrunzelnd. »Wir sprachen über Unverletzbarkeit.«
    Der Otter grinste. »Du willst sofort zur Tat schreiten, aber das genau ist ja das Problem.«
    Er begann, Runden im Saal zu drehen, den Blick konzentriert auf seine Füße gerichtet, als setze er seine ersten Schritte. »Proportionen, darum geht es. Ausgewogenheit,Symmetrie. Gerade der Mensch muß, da er auf zwei Beinen geht, sehr auf sein Gleichgewicht achten. Wir sind das einzige Geschöpf, das unbewaffnet auf die Welt kommt. Wir haben keine Stacheln oder Stoßzähne, wir haben unseren Verstand, der sich nach und nach entwickelt und die Waffen der anderen erkennt. Ein durch und durch mutiger Mann, einer, der sich seiner Kraft bewußt ist, verteidigt sich nicht durch den Angriff. Er wartet ab. Wir Deutschen sollten diesmal mehr Geduld an den Tag legen. Nicht wie beim letzten Mal, Hals über Kopf, Lieder grölend.«
    »1914 waren alle kriegslüstern«, sagte Egon. »Das weißt du genau. Mir ist noch nicht klar, worauf du hinauswillst.«
    Die Männer tranken Pflaumenschnaps. Zwischen dem vierten und dem fünften Glas waren sie zum Du übergegangen, während wir mit trockenen Mündern zuhörten. Der Otter beugte sich zu den Zwillingen vor.
    »Ihr beide, könnt ihr euch mal da hinstellen? Einander gegenüber bitte. Nein, nicht in Fechthaltung. So, ja.«
    Friedrich stand verstört da, aber Siegbert hatte schon eine Weile fasziniert zugehört, mit der gleichen Konzentration, mit der er den Maulwurf begraben hatte. Er wollte Vermessungskunde studieren, während es Friedrich nur störte, daß sein Bruder etwas wußte, was er nicht begriff. Jetzt standen sie einander gegenüber. Ich sah die Unterschiede, der Otter nicht.
    »Hier sehen wir zwei vollkommen identische Menschen«, sagte er, »aber im Grunde

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