Die niederländische Jungfrau - Roman
Raum.
»358 979 323 846 264 3 383 279.«
Ich wurde auf der Treppe wach, beim Schein einer Kerze. Es war Heinz, mit dem Leuchter. Wir erschraken beide.
»Was machst du hier?« fragte er als erster.
»Das kann ich eher dich fragen«, sagte ich, vom nüchternen Ton meiner Stimme überrascht. »Dein Zimmer liegt weiter weg von hier als meins.«
»Freches Ding. Ich mache hier meine Runde, wie ich das schon seit Jahren tue.«
Er betrachtete mich von oben bis unten, ich schlang die Arme um meine Brust. Er ließ den Leuchter sinken.
»Sie sind hier.«
»Wer?«
»Du spürst es auch, das sehe ich.«
Er sagte es tonlos, aber mir hämmerten die Schläfen.
»Es war ein Traum. Ich habe Zeiten, in denen ich oftschlafwandle«, sagte ich. Er lächelte dünn, weil ich zugegeben hatte, daß ich wußte, wovon er sprach.
»Hier auf Raeren wird eine Menge geträumt«, sagte er. »Hier ist viel unterwegs in der Luft. Fühl nur.« Und er holte tief Atem.
»Ich konnte das Licht nicht finden, Heinz. Eben, in meinem Zimmer. Vielleicht hast du …«
»Du brauchst keine Angst zu haben. Dafür gibt es eine ganz logische Erklärung. Kennst du die Geschichte dieses Hauses?«
Ich war mir nicht sicher, ob ich sie in diesem Moment hören wollte. Ich wollte, daß er mir voranging ins Zimmer, das Licht anmachte und anließ, bis ich in einen sorglosen Schlaf gefallen war. Er aber blieb auf der Treppe stehen, eine Stufe tiefer, und flüsterte weiter.
»Im Krieg war hier ein Lazarett eingerichtet. Unten, wo jetzt der Fechtsaal ist, wurden die Verwundeten hereingetragen. Sie lagen in Reihen zu fünfzig Mann, schreiend und blutend. Wo ihr jetzt den Musketier spielt, ist viel, sehr viel gestorben worden.«
Er begann die Treppe wieder hinunterzugehen. Mit jedem Schritt wurde das Knarren lauter und das Kerzenlicht schwächer.
»Du machst mir angst«, zischte ich. »Und zwar mit Absicht.«
»Keineswegs«, hörte ich ihn sagen. »Die Geister muß man nicht fürchten, sondern hegen und pflegen. Laß die Logik beiseite, die hilft dir auf dem Sterbebett nicht weiter. Da herrschen Schmerzen, Kummer, Angst und Hoffnung.«
Am nächsten Morgen wachte ich verwirrt auf. Ich hatte nicht erwartet, daß eine so schwarze Nacht zu Ende gehen könnte, daß die Sonne jemals wieder in dieses Zimmer scheinen würde. Von nah ertönten die Dorfglocken. Sie wurden geläutet, ein nachdrücklicher Schlag nach dem anderen, für jeden, der es hören konnte, und folglich auch für uns, die Sonderlinge von Raeren. Als ich die Balkontür öffnete, war es draußen wärmer als drinnen. Das Land war wie Brokat, fein gewoben, mit wehendem Laub, doch die Aussicht hatte einen Modergeruch, und stärker als je zuvor roch ich die Fäulnis, die Rinden und Moose des Tannenwalds, die Streuäpfel auf der Erde, den gärenden Misthaufen und das Kreosot, mit dem Heinz die Stalltüren bestrich. Entlang des Türrahmens lief eine Prozession Marienkäfer, wie eine Jaspiskette. Acht. Als ich sie durch den Spalt nach draußen zu schieben versuchte, sonderten sie den sauren Geruch von Angstschweiß ab. Sie sind hier, hatte Heinz gesagt, du spürst es auch. Ich schaute auf die Wandlampe, in die ich die unterschiedlichsten Figuren hineinspintisiert hatte – das Mädchen mit dem Strohhut ein paarmal, eine graue Dame, einen dicken Mann mit gebrochener Nase, einen sehr blassen kleinen Jungen. Keine Rede davon, daß sie Geister waren. Meinem Vater zufolge waren Träume lose Fäden, die sich zu etwas Plausiblem verknüpften. So arbeite das Gehirn, es müsse eben immer was zu tun haben. Engstirnig, fand meine Mutter. Engstirnig, die Mysterien auf die paar hundert Gramm Gehirn zu reduzieren. »Ein bis anderthalb Kilo«, sagte mein Vater dann. »Ohne Gehirnflüssigkeit würde das Hirn unter dem eigenen Gewicht in sich zusammenfallen, so groß ist seine Masse.«
Ich spürte, wie mir Tränen in den Augen brannten. Hatte ich Heimweh? Ich dachte nicht oft an zu Hause. Vielleicht sprachen sie jetzt miteinander, wo ich nicht mehrzwischen ihnen saß. Ich vermißte diese Abende nicht, ich vermißte nicht einmal meine Freundinnen. Sie waren verblaßt, wie der Umschlag einer zerlesenen Zeitschrift. Nie würde ich ihnen erzählen können, was ich erlebt hatte. Wie einsam ich mich fühlen würde, wußte ich schon jetzt. Ich wollte, ich wäre ich selbst, wie damals. Richtiges Heimweh empfand der Reisende, wenn er sich nicht nach seinem Haus sehnte, sondern nach sich selbst, wie er war, was er
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