Die niederländische Jungfrau - Roman
Körpergröße angepaßt sind. Für die Feinheiten rate ich euch, das Buch selbst zu lesen. Ich glaube, in den Amsterdamer Bibliotheken gibt es noch Exemplare, und in Barcelona. Darin verbirgt sich das Geheimnis der Unverletzbarkeit. Jungs, ihr könnt euch jetzt wieder setzen.«
Siegbert ging als erster zum Tisch zurück und rückte seinen Stuhl ein Stück von Friedrich weg, der frech meinen Blick einzufangen suchte, aber ich ignorierte sie alle beide.
»Auf dem Schlachtfeld kannst du es dir nicht leisten, den Feind als gleich zu betrachten«, sagte Egon. »Das habe ich seinerzeit auch zu Jacq gesagt, ihrem Vater, der für das Rote Kreuz gearbeitet hat: ›Hilft immer, jedem, überall.‹ Wie sollte man nach diesem Grundsatz kämpfen können? Wenn wir alle gleich sind und den anderen hassen, ist das dann kein Selbsthaß? Und wenn wir alle gleich sind und den anderen liebhaben, ist das dann kein Narzißmus?«
Leni kam herein, um den Tisch abzuräumen, und machte uns darauf aufmerksam, daß es bereits Mitternacht sei. Ich konnte es kaum glauben. Es war, als hätte die Zeit erst zu laufen begonnen, nachdem sich der Sturm gelegt hatte. Unten sah ich, daß der Bus des Unparteiischen verschwunden war, doch seine Drohung hing noch im Raum. Die Paukanten verabschiedeten sich, ohne uns anzusehen. Ich bekam einen warmen Händedruck vom Otter.
»Sie fahren also in zwei Wochen? Wir werden Sie vermissen.«
»Mein Vater holt mich ab«, bluffte ich. Das war nicht abgesprochen, gar nichts war abgesprochen.
Aber er wußte, wo ich war. Ich erinnere mich an seine Verblüffung, als er herausfand, daß Egon in Aachen lebte. Zufällig, obwohl meine Tante sagen würde, daß es keinen Zufall gibt. Sie hatte mir Die Woche mitgebracht, weil da ein Artikel über Theaterfechten drinstand. Ein Fechtmeister aus der Umgebung von Aachen hatte dabei geholfen, die Fechtszenen für Die drei Musketiere einzustudieren. Die Schauspieler waren Herrn Egon von Bötticher zu großem Dank verpflichtet. Mein Vater hatte die Zeitschrift sinken lassen und fassungslos aus dem Fenster gestarrt.
»Zwei Kilometer«, murmelte er. »Zwei Kilometer pro Jahr. Das ist alles.«
Hinter den Häusern sah er die Masten der Eisenbahnlinie. An deren Ende wohnte der Freund, den er vor zwanzig Jahren verloren hatte. Eine gerade Linie von vierzig Kilometer Länge, unterwegs von einer Grenze durchschnitten. Zwei Kilometer pro Jahr. Es war nicht zu fassen.
6
Jemand rief mich, aber ich war vom Schlaf gelähmt.
»Mädchen.«
War das Deutsch? Ich spitzte die Ohren, dann wurde es verworren. Ein paar heftige, unzusammenhängende Ausrufe. Meine Beine waren noch immer schwer unter der Decke. Ich wollte nicht aufstehen, ich wollte hierbleiben. Ich hatte das Recht, hierzubleiben, in diesem Bett, im Dachzimmer von Raeren, das hatte man mir erlaubt.
»…«
»Was?«
Meine Stimme klang hohl in der Dunkelheit. Ich mußte wohl die Augen öffnen.
»Was hast du gesagt?«
Er näherte sich in Fragmenten. Das Bild war nicht vollständig. Nur die linke Hälfte seines Körpers war bekleidet, die andere war nackt. Meine Lider wurden wieder schwer. Schlaf.
»3,14 159 265. Ratio vincit.«
Nun denn, raus aus dem Bett. Solche Dinge mußten sofort gelöst werden, sonst hörten sie nicht auf, einen zu stören. Es zog fürchterlich. Ich legte mir die Decke um die Schultern und tastete nach dem Lichtschalter, während er dort einfach stehenblieb. Mit seinen hervorquellenden Augen. Ja, ich erkenne dich, sagte ich, mach, daß du wegkommst. Er reagierte überhaupt nicht, als hätte ich die Worte nie ausgesprochen. Weg mit dir, verstanden? Was willst du noch von uns? Wo sind deine Kumpane? Hast du sie etwa nach Hause fahren lassen und hast selbst die ganze Nacht bei Heinz gehockt und geklatscht? Er trat einen Schritt vor, sein Penis baumelte. Es war ekelhaft. Die Fetzen, die die eine Seite seines Körpers bedeckten, sahen aus wie Soldatenklamotten, mit Troddeln an der Brust. Erst als er im Mondlicht stand, ging mir auf, was ich da sah. Eine halbe Leiche. Sein Körper bestand zur Hälfte aus Knochen. Sein Gesicht war lediglich auf einer Seite mit Gewebe bedeckt, die andere war ein Totenkopf. Ich schrie, aus vollem Hals jetzt, und schrie immer weiter, während er klappernd näher kam. Aus seinem Hals, der genau zur Hälfte seziert war, kamen keine Worte, sondern noch mehr Zahlen. Ich verstand nicht, wie, sie kamen nicht über seine Lippen, sondern bildeten sich einfach und füllten den
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