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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wie man das mit unerwartetem Besuch aus gutem Hause tut, doch jetzt, wo das Haus fertig war, fehlten die interessierten Freunde, um den Gast zu unterhalten. Der Einfachheit halber hatte er vergessen, daß er in der Ferne sehr wohl einen Freund hatte, einen, der ihn als erster auf Thibault aufmerksam gemacht hatte. Meinen Vater, den Feigling.
    »Unverletzbare Soldaten«, sagte er, »hat es immer schon gegeben. Junge Männer, wie ich sie an der Front gesehen habe. Die nie getroffen wurden und sich über den Tod lustig machten. Doch die wußten selbst nicht, wie sie zu dieser Gabe kamen, sie besaßen sie von Natur aus. Thibaults Wissenschaft hat das Geheimnis der Unangreifbarkeit entschlüsselt, man kann es lernen.«
    »Ich flehe dich an, Egon, hör auf damit«, flüsterte der Otter. »Wir leben nicht mehr im siebzehnten Jahrhundert. Uns stehen schreckliche Dinge bevor.«
    »Auch manche Tiere haben das von Natur aus«, fuhrEgon fort. »Ein felsenfestes Vertrauen umgibt sie wie ein Panzer. Meine Stute Fidèle konnte nicht getroffen werden, sie preschte zur Vorhut, immer weiter, während alles um sie herum brannte und schrie. War sie ein Mythos? Absolut. Niemandem fiel es ein, sie zu treffen, während ich Versager krepierend im Sand lag, weil mein Vertrauen beim Totenkopf auf meiner Husarenmütze endete.«
    »Dieser Totenkopf wird jetzt von der SS getragen«, sagte der Otter tonlos.
    »Äußere Zurschaustellung hat nichts zu sagen.«
    »Ich kann dir aber sagen, es läuft dir kalt den Rücken runter, wenn dir so ein Kopf ins Gesicht schaut und zu dem Urteil kommt, daß das Blut darin kein Recht hat zu fließen. Ich sage dir: Uns steht noch was bevor. Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.«
    Als der Otter sah, daß von Bötticher endlich zuhörte, verschwand der gehetzte Ausdruck aus seinem Gesicht. Er zog das Buch zu sich heran, schlug es auf und gab zu erkennen, daß er es wiedererkannte. »In der Akademie bekam ich zum Geburtstag ein Buch voller Mysterien, Rombergs Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Menschen . Es beschrieb viele Krankheiten, die selten vorkamen, die Phantasie aber so anregten, daß die Lithographen nicht müde wurden, sie darzustellen. Hemiatrophia faciei progressiva , halbseitiger Gesichtsschwund! Der Fall Pauline Schmidt, halb Jugendlichkeit, halb Verfall. Vor hundert Jahren kannten die Ärzte sie in ganz Europa, sie verfaßten Arbeiten über sie, in denen sie selbst vor den abwegigsten Fragen nicht zurückscheuten. Waren ihre Gedanken auch gespalten? Konnte sie nur mit einer Hälfte lieben? In der damaligen Zeit kannte die Wissenschaft noch Sehnsucht. Heutzutage muß alles einen Nutzenhaben, mit den kleinen Abweichungen befassen wir uns nicht mehr.«
    Während er die schweren Seiten umblätterte, versank er in Gedanken. Wir sahen, daß er sie aussprechen wollte, aber zögerte, als hielte er eine Ratte am Kopf fest, die ihn beißen würde, sobald er sie losließ. »Die Sorgfalt, mit der dies gemacht wurde, findet man nirgends mehr«, sagte er nach einer Weile. »Warum haben alle es heutzutage so eilig? Wie Tiere, die ihr Futter hinunterschlingen, bevor es ihnen weggenommen wird. In den letzten Jahren sind so viele Wälder abgeholzt worden, um sie zu Zeitungspapier zu machen, Tiere sind in die Flucht geschlagen worden, ganze Menschenrassen, wie zum Beispiel die australische, sind beinahe verschwunden, weil sie keinen Nutzen erbringen. Man sieht keinen Wasserfall mehr, ohne an Energie zu denken, keine ehrliche Arbeit, ohne sie in eine Maschine umzusetzen. Das Organische muß dem Organisatorischen weichen, aber ich sage dir, die Wut, mit der das geschieht, die schonungslose Raserei, die ist bestialisch! Und was tust du, Egon? Du bringst diesen Kindern bei, geduldig innerhalb eines Kreises zu bleiben, während sie außerhalb davon mit Haut und Haar verschlungen werden. In diesem Land kannst du nicht aufhalten, was im Anmarsch ist.«
    In seiner alten Verfassung, während eines einsamen Ausritts mit seinem Pferd oder während er sich mit den Tieren im Garten abgab, hätte Egon dem Otter beigepflichtet. Er hatte so oft das gleiche gedacht. Doch seit er aus Amsterdam zurück war, hatte seine Melancholie handfesten Plänen Platz gemacht, und er wollte nicht in Zweifel gestürzt werden von einem Arzt, der gekommen war, um ihn vor Dingen zu warnen, die doch nicht zu ändern waren. Zuguter Letzt schickte er uns doch weg. Die Zwillinge rannten mit den Floretten hinaus, sie wollten noch eine Partie im Garten

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