Die niederländische Jungfrau - Roman
derart unbesonnenes Verhalten zunutze zu machen, wußte, daß ich sie sich austoben lassen und dann den richtigen Moment ergreifen mußte, so wie ein Psychiater einen Patienten mit einem Koller auffängt, aber ich wußte nicht, wer sie war, das war der springende Punkt; vielleicht war ich ja die Verrückte. Ich drehte den Oberkörper weg, so daß sie das Gleichgewicht verlor. Mit einem hohen Stoß bohrte ich ihr die Spitze meiner Waffe von der Seite her in die Taille, vielleicht waren wir einander doch ebenbürtig. Jetzt sah ich plötzlich, daß auch sie lächelte. Wir stürzten uns auf und unter die Waffe der jeweils anderen, ballten auf die gleiche Weise die Faust, wenn wir einen Treffer plazierten, und hielten die Stimme unter Kontrolle, wenn wir getroffen wurden, obwohl wir sicherlich vor lauter Nervosität am liebsten laut aufgeschrien hätten. Noch nie hatte ich so gut gefochten. Beim achten Treffer lag ich um zwei Punkte vorn, aber ich mußte gar nicht siegen, ich wollte, daß diese phantastischeFechtpartie nie endete. Und genau in dem Moment zog sie sich die Maske vom Gesicht.
Ich sah Helene Mayer mit ihren aufgesteckten hellblonden Zöpfen. Einen Augenblick später wußte ich plötzlich nicht mehr, wen ich sah, so wie man nicht begreift, was man ißt, wenn man sich etwas anderes in den Mund gesteckt hat als ursprünglich vorgenommen. Dann erkannte ich ihre knallblauen Augen, ihren verbissenen Unterkiefer, die streng geschminkten Lippen. Mit ihren vor Erschöpfung aufgedunsenen Wangen sah Julia jünger aus als je zuvor. Sie hätte meine Schwester sein können.
»War er dein erster?«
»Was?«
»Egon war nicht mein erster.« Sie lächelte bitter. »Mein Mann auch nicht, der kam ebenfalls zu spät. Weißt du, wir vögelten damals wie die Wilden. Alle Frauen im Dorf hatten brav gewartet, bis klar wurde, was wir wirklich zu verlieren hatten. Ich kann sie dir zeigen, die treu blieben, dann den Falschen nahmen und jetzt dreißig Jahre älter aussehen als ich. Im Krieg ist Jungfräulichkeit nur eine Lappalie.«
Woher wußte sie es? Egon hatte bestimmt nichts gesagt, vielleicht kam es von den Zwillingen, die es ihrer Mutter erzählt hatten, oder, noch schlimmer, vielleicht meinte sie ja gar nicht Egon, sondern Friedrich. Ich strich mir über das Gesicht, als könnte ich finden, was sie davon abgelesen hatte.
»Du denkst jetzt: Woher weiß sie es?« sagte sie. »So etwas spüre ich. Vergiß nicht, ich bin die Mutter von Zwillingen. Eine Halbgöttin. Das sagen die Eingeborenen in Afrika: daß Zwillinge Götter sind und daß sie geboren werden, ohne daß ihre Mutter befruchtet wurde.«
Sie konnte sehr schön erzählen, auch wenn die Schauspielerin durchklang. Sie erzählte von Zwillingen, die im Nebel an der nigerianischen Grenze auftauchten und sich auf die Suche nach einer Frau begaben, die ihre Mutter werden sollte. Sie erzählte, daß der Vater nicht wichtig war, noch weniger als Josef in der Bibel, daß jeder diese Rolle hätte übernehmen können; Egon oder ihr Ehemann oder einer der Burschen, die das Glück hatten, in ein Dorf zu kommen, in dem die Frauen sich nehmen ließen, als hinge ihr Leben davon ab. Es ging nur um diese bildschönen Geschöpfe. Die mit zwei Augen schauten und mit einem Mund sprachen. Die sie ausgewählt hatten. Sie lief umher mit ihrem leichtfüßigen Schritt, versuchte zu schweben, betrachtete sich von Kopf bis Fuß und wandte sich lächelnd von ihrem Spiegelbild ab. Luder. Ich wollte sagen, daß Zwillinge nach dem Glauben der Indianer ein Fluch wären. Daß diesem Aberglauben zufolge die Mutter sich während der Schwangerschaft gestritten hätte, daß ihre Kinder den mütterlichen Urin trinken müßten, andernfalls würden sie sie töten. So etwas hatte ich gelesen, so etwas konnte genausogut wahr sein. Aber ich hütete mich, das zu sagen, als sie sich direkt vor mich stellte.
»Es ist verdammt einsam, die Mutter von Zwillingen zu sein. Als hätte ich sie nie wirklich gehabt. Sie lieben in erster Linie sich selbst.«
Das schon wieder. Es kam mir unwahrscheinlich vor, daß diese Frau bei irgend jemandem Zärtlichkeit wecken konnte. Verdammt einsam, ach herrje, aber auf Mitleid war sie nicht aus.
»Und dann diese armen Mädchen, die sich in sie verlieben … Denn sind sie nicht schön, nicht perfekt? Aber ich kann ihnen sagen, daß sie lediglich mit der Hälfte intimsein werden, weil die andere Hälfte dem Bruder gehört. Sie müssen jetzt so schnell wie möglich zum Militär.
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