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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Ich hörte, daß der eine jammerte, während der andere denMund zwar aufriß, doch ohne daß etwas herauskam oder hineinging. Als Egon sah, wer getroffen war, schob er die Arme unter den Jungen und fing an zu rufen, ungehindert laut aus der Tiefe seiner Natur, wie nur Männer es können, wenn etwas gründlich schiefgegangen ist. Er hielt Friedrichs fassungslosen Körper an sich gedrückt, hob ihn hoch und heulte wie ein Wolf.
    Danach ging alles noch schneller. Heinz stürmte nach draußen und startete das Auto. Ich rannte die Freitreppe hinunter, wobei ich über das Laken stolperte, das sich losgewickelt hatte, aber ich fühlte keine Kälte oder Scham, nichts war von Bedeutung. Nur Zeit und Luft. Hauptsache, es gab genug Zeit und Luft, das galt für alles auf der Welt, in diesem Moment jedoch vor allem für Friedrich. Er atmete noch, als er ins Freie getragen wurde. Noch nie hatte ich einen Menschen so deutlich atmen sehen. Siegbert folgte, an Lenis Hand wirkte er wie aus Papier ausgeschnitten. Auf seine Jacke war ein roter Fleck gestempelt. Der Blutabdruck seines Bruders. Er sah mich kurz an mit so einem lebensmüden Blick, ich machte eine hilflose Geste und sah, wie sein Ebenbild von Egon ins Auto gehoben wurde. Sein Kopf fiel nach hinten. Da war das erste richtige Blut, ein haarscharfer Tropfen, der wie ein Insekt am Rand seiner Jacke entlang über die bebende Brust lief. Heinz wendete das Auto, tippte an seine Mütze und fuhr los. Auf einmal wirkten alle drei Männer ruhig und gefaßt. Sogar das Opfer, das aufgehört hatte zu atmen. Ich spähte, ob sich etwas in der Luft verändert hatte, aber es blieb totenstill über dem Jungen, nicht einmal sein Haar bewegte sich im Wind. Er war zu einem Gegenstand geworden. Als ich diesen Körper kennenlernte, war er sehr warm gewesen.
    In dem Moment, in dem sie durchs Tor verschwanden, begann Siegbert zu zittern. Immer heftiger, holprig und stockend vom Weinen, sog er Luft ein. Ruhig, flehte Leni, ruhig, mein Junge, aber er riß sich los, als nähme er im letzten Moment die Schlinge vom Hals und beschlösse weiterzuatmen.

5
    Siegbert wurde zu den Bauern gebracht, die ein Stück entfernt wohnten. Er hing an Lenis Hand wie ein Kind und hielt das Gesicht von mir abgewandt, während sie mir Anweisungen erteilte: die Pferde auf die Weide bringen, den Kuchen, der im Ofen stand, im Auge behalten, auf sie warten. Sie würde rechtzeitig zurücksein, um meinen Vater zu begrüßen, sie müsse nur schnell den Jungen bei Frau Wolf unterbringen und dann ein Telefon suchen, um die Mutter zu benachrichtigen. Leni war ein pragmatischer Mensch. Sie machte sich Gedanken über den Besuch meines Vaters, den sie noch nie gesehen hatte, während gerade jemand weggebracht worden war, den sie nie wieder sehen sollte. Ich konnte mir vorstellen, daß sie bei ihrem eigenen Tod auch erst den Kuchen würde zu Ende backen wollen, denn ein Unglück bricht oft unerwartet herein, wohingegen es bei einem Kuchen darum geht, zu planen, die richtigen Mengen abzuwiegen und auf die Zeit zu achten. Es ist Sünde, Dinge, die man in der Hand hat, wegen eines Unheils fallenzulassen.
    »Alles gut so?«
    Sie lächelte bitter. Ich sah auch, daß sie sich wünschte, auf Raeren möge morgen wieder alles beim alten sein. Sie wollte es loswerden, dieses angekränkelte Geschöpf an ihrer Hand, das in seiner immerfort flatternden Jacke, mit dem zerzausten Haar so häßlich wie ein Reiher geworden war, und dann diese Sportschuhe, die er am Morgen noch nichtsahnend und verliebt angezogen hatte … Eswar merkwürdig, aber ich fand, Leni hatte recht. Ich blickte auf seine gebundenen Schnürsenkel und empfand tiefen Abscheu, was hatte er sich bloß eingebildet, das Bürschchen mußte weg, damit ich die Pferde hinausbringen und den Kuchen zu Ende backen konnte. Das waren die Dinge, die noch zu erledigen waren, bevor ich wegfuhr, so daß ich ein Haus zurücklassen konnte, das sich mit meinen Erinnerungen deckte.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, während ich ein kleines Stück neben ihnen herging. »Es kommt alles in Ordnung.«
    Sie nickte, ich hatte ihr aus dem Herzen gesprochen. In der Ferne begannen die Glocken zu läuten. Gestern war ich dort gewesen, von wo die Klänge kamen. Es schien ein Jahr her zu sein, und auch wenn es nur eine Stunde gedauert hatte, wußte ich doch, daß ich später vor allem davon erzählen würde: vom Markt, den Leuten, dem Postamt. Das ließe sich alles gut nacherzählen, während von Raeren eine

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