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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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da sei er noch nicht wieder ganz davon geheilt gewesen.
    »Von Natur aus sehnen sich Menschen nach dem Ganzen«, sagte er. »Tiere machen Dinge kaputt und scheren sich nicht weiter darum, wir aber lieben, was heil ist und stimmt. Und trotzdem, sieh dir an, wo wir sind, zum Teufel. Das Drama, das sich hier ereignet hat, beweist, daß man sich noch so bemühen kann, Ordnung zu schaffen – die Leidenschaft setzt sich über alles hinweg.«
    Er nahm neben mir Platz. Zu Hause hatten wir oft so nebeneinander auf meinem Bett gesessen, wenn wir miteinander reden mußten, weil es in meinem Zimmer keine anderen Möbel gab. Aber das hier war komisch, seines Wissens war dies das Bett eines Mannes, den er sehr lange nicht mehr gesehen hatte, ein Fremder inzwischen. Ob er wußte, daß ich ihn mittlerweile besser kannte als er? Leichte Panik überkam mich, ich stand auf. Wenn wir jetzt nach Hause zurückfuhren, könnte ich die Lieder, die wir immer sangen, nicht mehr ehrlichen Herzens singen, und das Eis an der Bude gleich hinter der Grenze würde anders schmecken. Wenn mein Vater mir eins spendieren würde, was er sicherlich täte, wäre ich lächerlich in meinen Bemühungen, eine Tochter zu bleiben, unbeholfen und mitleiderregend wie Kinder, die auf einmal um zwei Köpfe über ihre Klassenkameraden hinausgewachsen sind, aber trotzdem mitspielen wollen. Ich konnte nicht mehr zurück in jene Zeit, dies war eine Reise ohne Rückkehr gewesen. Jetzt wurde mir wirklich schlecht. Wir entfremden uns alle gelegentlich von uns selbst, wenn wir in Scham zurückblicken, und dann ist es zu spät. Nur Egon hatte sich selbst nach langer Bewußtlosigkeit nicht mehr im Hier und Jetzt wiedererkannt. Als dissoziative Störung hatten die Ärzte das bezeichnet, aber zeugte diese Selbstentfremdung nicht vielmehr von der Schärfe seines frisch erwachten Bewußtseins? Ich wollte, ich besäße diese Gabe.
    Jetzt wollte ich, daß mein Vater mich mit nach Hause nahm, doch er blieb triumphierend auf dieser teuflisch roten Bettdecke sitzen, hatte noch alles mögliche mitzuteilen. Wie zum Beispiel: »Ich bin über Aachen gefahren. Da bin ich bestimmt zehn Jahre lang nicht mehr gewesen. Ich fand alles auffallend ordentlich, sehr traditionell und aufgeräumt. Wie im Haus einer alten Frau, die immerzu weiterputzt, obwohl sie ihren Mann überlebt hat und keine Kinder mehr da sind, für die sie sorgen muß. Obwohl sich in Trümmerhaufen eine gewisse Schönheit verbirgt. Man braucht sie, um einen Neuanfang zu machen. Hitler muß das wissen.«
    Er streckte die Hände in seinem Schoß, studierte die Fingernägel. »Mit den Nationalsozialisten an der Macht, hätte ich eine starke, männliche Stadt erwartet, keine volkstümliche Altfrauenhütte. Idealisten glauben, man könne das traditionelle Leben wieder zu Ehren bringen, aber man kann Menschen, die Bekanntschaft mit der Wissenschaft geschlossen haben, nicht in eine primitive Denkweise zurückversetzen. Genauso wie man eine Frau nicht wieder zu dem unschuldigen Mädchen machen kann, das sie einst war, man kann höchstens versuchen, ihren Liebreiz zu erhalten.«
    Er knöpfte seinen Mantel wieder auf und zog das Telegramm hervor, das Egon ihm geschickt hatte. Danach starrte er mit einem Pferdeblick aus dem Fenster: über alles hinweg, was in der Nähe war, aber haarscharf in der Ferne seiner Vergangenheit.
    »Egon schreibt, daß er die Briefe aufbewahrt hat, mit denen er meine beantwortet hat, daß er sie aber nie abgeschickt hat. Lange her, lange Geschichte.«
    »Du brauchst mir nichts zu erzählen.«
    Seine Augen schossen kurz zurück ins Jetzt, überrascht. »Wird wohl so sein. Ich habe lange keine Antwort gefunden. Aber es gibt auch etwas, was er nicht weiß. Auch ich habe einen Brief geschrieben und nie abgeschickt.«
    Er zog einen Umschlag unter dem Telegramm hervor, frankiert, aber ohne Adresse. »Ich wollte es ihm gleichtun. Etwas, was er nicht weiß, im Tausch für etwas, was ich nicht weiß. Aber er ist nicht da. Und seine Briefe …« Er sah sich im Zimmer um.
    »Seine Briefe gibt es auch nicht mehr«, sagte ich entschieden. »Laß uns fahren, ich will hier weg.«
    Zu meiner Überraschung gab er sich mit dieser Antwort zufrieden. »Ich weiß«, sagte er. »Es ist schrecklich. Es tut mir so leid.«
    Er erhob sich, versuchte, den Umschlag in seine Innentasche zu schieben, doch beim Verlassen des Zimmers warf er ihn doch auf den Schreibtisch. Bon . Ich folgte ihm durch den Flur. Mir glühte der Nacken, es war

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