Die niederländische Jungfrau - Roman
darauf hin, daß er zwar eine emotionale, aber keine kognitive Vorstellung von seiner Identität hat. Hält man ihm einen Spiegel vor, gerät er ernsthaft in Verwirrung, meint, optische Täuschung sei im Spiel … Nervenstörung ist wahrscheinlich die Folge einer Schädigung durch einen Huftritt oberhalb der rechten Schläfe … Patient reagiert nicht auf Stimulierung der linken Körperhälfte. Motorisch f… Ich bin der festen Überzeugung, daß dieser Fall zur Vertiefung der Studie von Ramón y Cajal zum Hippocampus beitragen könnte oder zu den Erkenntnissen von Janet über Realitätssinn und Psychasthenie. Einzig und allein um diesem Zweck zu dienen, zum Nutzen unserer vaterländischen Wissenschaft, ersuche ich Sie, wobei ich den Ernst des Krieges und die Aufgabe des Spitals in keiner Weise unterschätze, Patienten E. von Bötticher noch einige Monate zur Beobachtung dazubehalten, umso mehr als in diesem Gebiet vorerst kein neuer großer Zustrom von Kriegsverletzten zu erwarten ist.
»Kannst du es noch entziffern?«
Ich ließ die Karte fallen. Er klang wach, aber im Halbdunkel konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht ergründen.
»Darin seid ihr Niederländer gut«, sagte er. »Im Entziffern. Für euch muß immer alles stimmen.«
»Das hat mein Vater geschrieben«, sagte ich. Eine schwache Ausrede.
Er nickte. »Korrekt. Er hat es mir zu guter Letzt geschickt, weil ich ihn darum gebeten habe. Ich hoffte, es würde mich freisprechen, aber es stand nichts drin, was ich gebrauchen konnte. Jacq hatte große Ambitionen. Ein Arzt in Ausbildung, und dann schon dem berühmten Cajal ebenbürtig sein wollen! Daraus ist wenig geworden,nicht? Ohne meinen Körper kam er nicht weiter, wie muß ich ihn enttäuscht haben. Letztendlich stellte sich heraus, daß ich doch nicht gestört genug war. Und er nicht begabt genug.«
Ich blickte zum Flur. Ich mußte hier weg. »Es tut mir leid, ich hätte nicht …«
Aber als ich schon fast an der Tür war, packte er mich am Handgelenk. Grinsend drückte er meine Hand an seinen Kopf, so fest, daß ich seinen Herzschlag an der Schläfe fühlte.
»Doch nicht gestört genug«, flüsterte er. »Es war kein Huf, mein Pferd trifft kein Tadel. Es waren herumfliegende Metallteile und ein Schlag, der alle Luft heraussog. Es war das riesige, das ohrenbetäubende Vakuum. Hier, dieses Ohr wollte von da an nichts mehr hören. Und das da …« er schob meine Hand auf seine Narbe, »das mußten sie wieder aufschneiden. Um den Tod herauszuholen. Nekrose, abgestorben, wie die Hälfte meines Geistes. Was hat dein Vater denn geglaubt – daß das Bewußtsein so einen Schlag unversehrt übersteht? Aber ich bin ein besserer Mensch geworden. Um zu leben, muß man den Tod gekostet haben. Hier, koste das.«
Ich riß mich los. Als ich durch den Flur davonrannte, hörte ich ihn kichern, und ich nahm mir fest vor, nie wieder zu ihm zu gehen, nie wieder!
Zwei Tage hielt ich durch. Er verließ sein Zimmer nicht mehr, wir machten uns alle Sorgen. Nach Lenis Worten hatte er keinen Bissen zu sich genommen, sie mußte die Tabletts mit dem unangerührten Essen wieder aus dem Flur abholen. Heinz hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden kein Licht in den Räumen von Böttichers gesehen, er sagte, der Chef könne zwar manchmal ein Griesgram sein, aber diesmal dauere es doch ganz schön lang. Die Zwillinge nahmen die Gelegenheit wahr, sich überhaupt kein Bein mehr auszureißen. Jedesmal wenn ich ihnen begegnete, lagen sie. Auf dem Diwan, auf dem Teppich im Salon, mit schlaffen Wangen vor dem Feuer in der Küche. Ich trainierte allein, in Gedanken Girard Thibault als Waffenbruder. Ob Menschen wirklich zu entschlüsseln waren? Diese Methode konnte einfach nicht funktionieren, weil Menschen sich nie auf dieselbe Weise bewegten, nie das Gleiche dachten und träumten. Thibault ging davon aus, daß jeder innerhalb der Linien blieb, doch das Ziel der Waffenspitze war noch immer die Lunge. Ein atemraubender Tod. Ich bezweifelte, daß ich ihm so gehorsam in die Augen blicken würde. Auf einmal schien es, als würde es wärmer im Fechtsaal, als hätte sich ein anderer Atem zu meinem gesellt. Mit einem Ruck drehte ich mich um, mit gezücktem Florett. Sie schoß zurück, stolperte und mußte sich am Türrahmen festhalten, um nicht zu fallen.
»Och, Leni! Ich wußte nicht, daß du’s bist.«
Sie wirkte kleiner als sonst. Voller Ehrfurcht starrte sie auf meinen gepolsterten Bauch. Sie legte unsere Anzüge jede Woche
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