Die Noete des wahren Polizisten
während allmählich die Dämmerung eines Nuklearangriffs über die Stadtrandgebiete hereinbrach. In einem anderen beschrieb er minutiös das langsame Sterben seines Vaters, allein in seinem Zimmer, derweil der Dichter die Wohnung putzte, kochte, die (immer spärlicheren) Lebensmittel aus der Vorratskammer einteilte, im Radio Sender suchte, die gute Musik brachten, sich auf dem Wohnzimmersofa lümmelnd las und vergeblich seine Erinnerungen zu sortieren suchte. Der Vater starb natürlich nie, und zwischen seinem Schlaf und dem Wachen des Dichters spannte sich, in Dunst gehüllt, die Ruine einer Brücke. Vladimir Holan ist mein Lehrer in der Kunst des Überlebens, sagte er zu Amalfitano. Großartig, dachte Amalfitano, einer meiner Lieblingsdichter.
Bislang hatte Amalfitano Padilla kaum gesehen, nur sporadisch tauchte er in seinen Seminaren auf. Nach den positiven Kommentaren auf seine Gedichte fehlte er nie wieder. Sie wurden rasch Freunde. Damals lebte Padilla schon nicht mehr bei seinem Vater, sondern hatte ein Studio in der Nähe der Universität gemietet, wo er Feste und Treffen organisierte, zu denen bald auch Amalfitano erschien. Dort wurden Gedichte vorgetragen, und zu vorgerückter Stunde führten die Gäste kleine Theaterstücke in katalanischer Sprache auf. Amalfitano fand das hinreißend, wie eine südamerikanische Tertulia aus längst vergangenen Zeiten, aber stil- und geschmackvoller und witziger, so wie vermutlich die Tertulias der Contemporáneos in Mexiko, falls die Contemporáneos Theaterstücke schrieben, was Amalfitano stark bezweifelte. Außerdem wurde viel getrunken, und gelegentlich bekam einer der Gäste einen hysterischen Anfall, der nach Tränen und Geschrei gewöhnlich damit endete, dass sich zwei Freiwillige mit dem Hysteriker im Bad einschlossen und ihn zu beruhigen versuchten. Hin und wieder ließ sich auch eine Frau blicken, aber gewöhnlich waren nur Männer zugegen, die meisten jung, Studenten der Literatur- und Kunstgeschichte. Auch ein Maler von vielleicht Mitte vierzig verkehrte dort, ein seltsamer Vogel, der nur Leder trug und während der Abende stumm in einer Ecke saß, keinen Alkohol trank und in Kette kleine Haschischzigaretten rauchte, die er fertig gedreht einem goldenen Zigarettenetui entnahm. Und der Besitzer einer Konditorei aus dem Stadtteil Gracia, ein lebenslustiger, fröhlicher Dickwanst, der mit allen sprach, alles bejubelte und, wie Amalfitano rasch herausfand, für Padilla und die übrigen Burschen den Bankier spielte.
Eines Nachts, während eines der » Gespräche mit Leuko« vorgetragen wurde, ins Katalanische übertragen von einem hoch aufgeschossenen und extrem bleichen Jungen, ergriff Padilla scheinbar unabsichtlich Amalfitanos Hand. Dieser zog sie nicht zurück.
Das erste Mal schliefen sie miteinander an einem frühen Sonntagmorgen, im Licht der Dämmerung, das sich durch die heruntergelassenen Jalousien stahl, als schon alle gegangen waren und sich nur Kippen und ein Chaos von Gläsern und herumliegenden Kissen im Studio ausbreiteten. Amalfitano war fünfzig, und es war der erste Mal, dass er mit einem Mann vögelte. Ich bin kein Mann, sagte Padilla, ich bin dein Engel.
3
Einmal, als sie aus dem Kino kamen, erinnerte sich Amalfitano, vertraute ihm Padilla an, dass er beabsichtige, in nicht allzu ferner Zukunft einen Film zu drehen. Der Film würde Leopardi heißen und wäre ein Porträt des berühmten und vielseitig talentierten italienischen Dichters im Hollywoodstil. John Hustons Film über Toulouse-Lautrec vergleichbar. Da Padillas Film jedoch mit keinem großen Budget rechnen durfte (eigentlich verfügte er über gar keins ), wollte er die tragenden Rollen nicht an berühmte Schauspieler, sondern an Schriftstellerkollegen vergeben, die aus Liebe zur Kunst imallgemeinen oder aus Liebe zu dem buckligen Dichter im besonderen mitwirken würden, oder einfach um sich zu produzieren. Für die Rolle von Leopardi hatte man einen jungen heroinsüchtigen Dichter aus La Coruña vorgesehen, dessen Name Amalfitano entfallen war. Die Rolle von Antonio Ranieri hatte Padilla sich selbst zugedacht. Von allen die interessanteste, fügte er hinzu. Den Grafen Monaldo Leopardi würde Vargas Llosa verkörpern, dem die Rolle, mit etwas Schatten und Talkum im Gesicht, wie auf den Leib geschnitten wäre. Für Paolina Leopardi hatte man an Blanca Andreu gedacht. Für Carlo Leopardi an Enrique Vila-Matas. Die Rolle von Adelaida Antici, der Mutter des Dichters, wollte man
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