Die Nonne und die Hure
weinte. Zumindest hatte sie ein wenig Geld dabei. Als die Kirchenglocke die sechste Stunde schlug, stand sie auf. Gehorsam war die erste Pflicht in einem Kloster, das hatte sie von ihrer Tante gelernt. Auf ihrem Weg zur Kirche sah sie Mönche in schwarzen Gewändern, die Laken, Tische und Stühle trugen. Andere brachten Kuchen, Weinkrüge und salzige Leckereien aus der Küche.
Was haben Männer in einem Frauenkloster zu suchen? überlegte sie.
Die Vesper wurde in einer Form abgehalten, die Celina erwartet hatte. Neben Psalmen wurde das Kyrieeleison gesungen, es wurde gebetet und um Vergebung von den Sündengefleht. Auf dem Rückweg zu ihrer Zelle bemerkte sie einige schwarze Hühner, die gackernd im Gang herumliefen. Manche der Zellen standen offen. Celina wunderte sich, wie reich sie eingerichtet waren. Hatte nicht der heilige Benedikt Armut gepredigt? Was sie sah, sprach diesen Regeln Hohn. Da gab es Betten, Truhen, verzierte Kissen, Käfige mit Tauben und Papageien, Körbe mit Obst, Weinkrüge und Schälchen mit Süßigkeiten. Ob das die Verwandten mitgebracht hatten? Oder waren es die Reste der Mahlzeiten aus dem Refektorium?
Die eine oder andere Nonne winkte Celina verschwörerisch zu oder blinzelte sie aus schwarz ummalten Augen an. Manche Zellen waren geschlossen, die letzten in weiße Gewänder und Schleier gehüllten Nonnen eilten zu ihren Domizilen. Celina bemerkte, dass sie ihre Zelle nicht abschließen konnte. Eine auf den Fußboden gestellte Kerze brannte darin. Sie wollte sich gerade niederlegen und das Licht löschen, als eine Schwester hereinkam.
»Das Licht muss die ganze Nacht hindurch brennen«, mahnte sie. »Ich bin übrigens Suor Gratiosa. Merke: Den Chorschwestern und der Äbtissin musst du den größten Respekt entgegenbringen! Um Mitternacht wird eine Glocke läuten, dann musst du schnell aufstehen und zur Mette in die Kirche kommen«, fügte Gratiosa hinzu. »Dort wirst du dann den Schleier nehmen.«
Celina blieb in tiefer Verzweiflung zurück. So hatte sie sich ihr Leben nicht erträumt. Wie viele der Nonnen waren wohl freiwillig hier? Hatte sie nicht eine gesehen, die lahmte? Die Frau war bestimmt ins Kloster gebracht worden, weil ihre Familie keine Mitgift für sie hatte aufbringen wollen. Hatte sie, Celina, nicht ein ganz normales Gesicht, mit dunklen Augen, weichen, geschwungenen Lippen, ganz normale schwarze Haare, eine schlanke Figur? Was hatte den Onkel dazu bewogen, sie ausgerechnet hierher zu bringen?
Celina musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen wieder aufschlug, war die Kerze fast ganz heruntergebrannt und Suor Gratiosa stand mit einem weißen Nonnengewand vor ihr.
»Zieh das an, es ist dein Brautkleid«, sagte sie.
Celina tat, wie ihr geheißen. Daraufhin zog Gratiosa ein Rasiermesser heraus und griff in ihre Haare.
»Was machst du da?«, fragte Celina entsetzt.
»Damit du den Schleier tragen kannst, muss ich dir die Haare abschneiden.«
Jede einzelne schwarze Strähne, die unter den scharfen Schnitten Gratiosas zu Boden fiel, tat Celina körperlich weh. Schließlich, als das Werk vollbracht war, traten sie auf den Gang hinaus. Andere Nonnen mit verschlafenen Gesichtern und weißen Gewändern zogen still durch den Kreuzgang zur Kirche. Steinerne Teufel und himmelfahrende Heilige schmückten das Marmorportal. Celina betrat das Gotteshaus, in dem es nach Weihrauch roch und eine düstere Atmosphäre vorherrschte. An den Wänden waren die Standbilder der Dogen aufgereiht. Vor dem Altar stand ein Mann in der Kleidung eines Patriarchen. Die Chornonnen nahmen Stellung auf der Empore, die Laienschwestern, mit ihnen Celina, knieten auf dem Steinfußboden. Ein eisiger Wind pfiff durch die Fenster, die nicht verglast waren. Nach Gebeten und Gesängen befahl der Patriarch Celina, sich auf den Boden zu legen. Sein stechender Blick machte ihr Angst. Die Kälte der Steine drang ihr bis in die Knochen.
Die Nonnen sangen Litaneien.
»Jetzt küss den Boden, zum Zeichen deiner Bereitschaft, die Weihe zu empfangen.«
Celina rührte sich nicht.
»Küss den Boden!«, befahl der Patriarch mit einem drohenden Unterton in der Stimme.
Celina beugte sich vor, öffnete ihre Lippen und berührte flüchtig mit ihnen den Boden. Es wurde dunkel um sie. Der Patriarch hatte ein schwarzes Tuch über sie geworfen. So ist es also, lebendig begraben zu werden, dachte sie und spürte Bewegungen um sich herum, ein schwaches Leuchten, Wärme. Man hatte Kerzen aufgestellt. Es war wie in einem
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