Die Glasglocke (German Edition)
Vorwort von Alissa Walser
»Help help I feel life coming closer when all I want is to die«
(Marilyn Monroe)
So wie ihre letzten Gedichte, ihre Ariel-Gedichte, scheint auch dieser eine Roman von Sylvia Plath nahe an jener durch sie selbst hindurchführenden Grenze entlang geschrieben, hinter der es kein Zurück mehr gibt. Und so nähert sich auch Esther Greenwood, das junge, »aufbrechende« Ich der Glasglocke , den Verlockungen dieser Grenze – wie die Maus aus dem Rachen der Katze der verlockenden Falle oder umgekehrt, wie die Maus aus der Falle dem verlockenden Rachen der Katze. Und dies genau ist die Art und Weise, in der Sylvia Plath Esther Greenwood diese Grenze nicht überschreiten, sondern energetisch beherzt darauf zugehen lässt. Sie umkreist sie (sich), berührt sie (sich) mitunter auch, doch ihr »Todesunwunsch« ist letztlich nichts anderes als die Kombination aus Flucht vor Schmerz und Sucht nach Körperlichkeit.
Ich habe Die Glasglocke gerade zum vierten Mal gelesen, und wieder provoziert mich der Text, und ich streiche Sätze an und wieder an. Auf fast jeder Seite mehrere. Wie die Beobachtung, die Esther im Kino sitzend macht: » Ich ließ den Blick über die Reihen hingerissener kleiner Köpfe gleiten, alle mit dem gleichen Silberglanz vorn und dem gleichen schwarzen Schatten hinten, und sie kamen mir vor wie eine Herde Mondkälber .« Und ich entziffere, was ich an den Rand des Satzspiegels gekritzelt habe, teilweise vor vielen, vielen Jahren, Kommentare in winziger Schrift, Bemerkungen wie: »Heute!« oder »Für immer und ewig!«
Auch die Stelle mit dem Feigenbaum. Kaum zu glauben, dass die Autorin diese Figur aus den 1950er Jahren heraus-und in die frühen 1960er Jahre eingeschrieben hat. Esther Greenwood stellt sich vor, sie sitze auf einem Feigenbaum und könne sich vor lauter Feigen nicht entscheiden, welche sie denn nun nehmen soll. Die Feigen stehen für die Möglichkeiten ihres Lebens. Wie soll sie bei so vielen Möglichkeiten mit ihrem Leben verfahren, das ja nur ein einziges ist? Es folgt die Aufzählung all der Möglichkeiten, denen sie ihr Leben widmen könnte. Einem Ehemann und Kindern. Sich selbst als berühmter Dichterin. Als brillante Professorin. Als tolle Redakteurin. Reisen nach Europa, Afrika, Südamerika. Einem Rudel Liebhaber mit seltsamen Namen und ausgefallenen Berufen. Sich selbst als Olympiasiegerin.
Ob ihre Entscheidungsunfähigkeit schon eine Wirkung der Glocke ist, die sich allmählich über sie stülpt? Es ist zwar nur eine Vermutung. Aber Esther wird verhungern. Denn Esther will alle Feigen. Typisch Plath, immer übergierig, immer vom Ehrgeiz hinterhergezerrt. Doch eine zu nehmen hieße (und das ist das märchenhaft Gesetzliche hinter ihrer Literatur), alle anderen zu verlieren. Und während sie unentschieden dasitzt, verschrumpeln die Feigen und fallen ab. Doch die Zeit (und das ist das Neue an den Märchen der Sylvia Plath) steht nicht still, sie geht weiter. Unbeeindruckt davon, was wir, die wir uns so gern mit ihr verkleiden, aus ihr herauslesen.
Das Provokante begründe ich mir mit der Sprache der Autorin. In der ihr eigenen Sprachübergenauigkeit entsteht der Blick der jungen Esther Greenwood. Ein gezielt radikaler Blick. Ein Blick wie eine Geheimwaffe. Die College-Studentin richtet ihn mal auf, mal aus ihrer Welt heraus. Aus Notwehr also. Jeder Witz mit einem Hautgout schwarzen Humors über sich hinausgreifend. Während sie sich gleichzeitig zu arrangieren versucht, um einen selbstangemessenen Platz in dieser, ihrer Weltlichkeit zu finden.
Von außen gesehen ist nichts an ihr in Unordnung. Im Gegenteil. Sie ist ein prächtiges » All-American-Girl « der frühen 1950er Nachkriegsjahre. Sie erfüllt ihrer Mutter den Wunsch nach besten Schulnoten, sie ist mit Stipendien gesegnet, hat ein paar Freundinnen, oder »Mehr-oder-weniger-Freundinnen«, und einen Jungen aus gutem Hause, mit dem sie ausgeht, sowie immer mal wieder kleinere Jobs, des eigenen Geldes, der eigenen Wünsche wegen. Ihr Handeln wird von ihrem Ehrgeiz, alles richtig zu machen, getrieben; und es versteht sich von selbst, dass (wie in den Groschenromanen Horatio Algers vom Amerikanischen Traum) das Leben, wenn man so jung, so begabt, so tüchtig und fleißig ist, sich erkenntlich zeigen wird. Und doch ist von Anfang an nichts so, wie es sein soll, inklusive Esther Greenwood selbst. Ihr Versuch, sich für die Rolle des perfekten Mädchens einer Fassade zu bedienen, scheitert.
Esther
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