Die Oder Ich
Kleine Lügen erleichtern den Alltag.
Mit dem Abendtau stieg der Geruch von frischem Gras, Gülle, überjährigem Silo und erwachender Erde auf und wehte kühl durch die halb offene Tür herein. Christa wollte sie schließen. Ein schwankender Schatten, ein lautloser Flügelzug strich vorüber.
»Hast du den gesehen? Ein Kauz!«
Schlüter nickte. Der Kauz war auch ein ehrenwerter Gast.
»Komm«, sagte sie. »Lass uns essen.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Steh auf, alter Krieger. Ich topfe die Tomaten neu ein, die du weggeschmissen hast. Zum Glück habe ich ein paar Pflanzen zu viel gezogen. Nach der Schlacht gibt’s den Rotwein. Und bis morgen kein Wort.«
»Pflegestufe zwei«, ächzte Schlüter und drückte sich hoch. Wieder dröhnte der Motor böse durchs Moor. Unheil verkündend, dachte Schlüter. Seit wann hören sich Motoren Unheil verkündend an?
2. Kapitel
In dem wir der Hauptperson dieser Geschichte,
Horst Kurbjuweit, eine Weile zusehen
An diesem Maiabend, an dem das Präludium zum Sommerkonzert gegeben wird und die ersten bunten Bänder flattern, sitzt Horschi Kurbjuweit in seiner dunklen Küche, mit den tatenlosen Händen auf dem Tisch, auf einer freien Fläche, die nicht größer ist, als sie ein Teller braucht oder ein Frühstücksbrett. Links stapeln sich Zeitungen, rechts die Prospekte des regionalen Handels und dazwischen lauter verschieden große Zettel, die er aus den Blättern eines linierten Schreibheftes gerissen hat. Obenauf der Kugelschreiber, mit dem er sie beschrieben hat, in einer ordentlichen Schuljungenschrift. Kurbjuweit starrt auf diese Zettel. Wenn er seinen Blick heben würde, träfe der auf das Fenster gegenüber, dessen Jalousie geschlossen ist, wie immer. Unter dem Fenster sieht man die Anrichte, rechts die Spüle, über der ein Geschirrschrank hängt, daneben steht der Herd. An der linken Seite ist die Tür zum Flur, rechts davon der Kühlschrank. Alles alte Sachen, verschlissen, olivgrün. Hinter Kurbjuweit ist nur noch die Wand. Über der Spüle brennt eine kleine Lampe, die ein müdes Licht auf Kurbjuweits Glatze wirft, sein gebeugtes Gesicht liegt im Schatten, es ist gelb wie bei einem Leberkranken.
Kurbjuweit denkt darüber nach, wann es angefangen hat. Er hat nichts zu tun, denn er ist seit fast einem Jahr krankgeschrieben, deshalb denkt er schon seit Stunden. Darüber ist der Abend gekommen.
Manchmal treten Dinge in dein Leben und du merkst es nicht. Nach einiger Zeit stellst du fest, sie sind Bestandteil deines Lebens geworden, aber du weißt nicht, wann. Zum Beispiel die Briefträgerin gestern, die diesen verdammten Brief gebracht hat. Es ist immer ein Mann gewesen und irgendwann ist es eine Frau. Du siehst sie auf der Straße kommen, sie geht hinein in den Hauseingang, du beobachtest sie durch den Spiegel, den Vater am Fenster angebracht hat, durch den du trotz herabgelassener Jalousie kontrollieren kannst, was draußen vor sich geht. Ein guter Spiegel, der immer noch seine Dienste tut, obwohl Vater schon mehr als fünf Jahre tot ist. Man kann ihn immer noch brauchen, damit es keine Überraschungen gibt und du auf alles vorbereitet bist, und dann stellst du plötzlich fest, dass der Briefträger kein Mann ist, sondern eine Frau. Kein Briefträger, sondern eine Briefträgerin. Aber seit wann? Du weißt es nicht, du grübelst, aber du kriegst es nicht zusammen. Man mag einwenden, es sei doch nicht wichtig, ob es ein Mann ist oder eine Frau, die die Briefe bringt. Aber weiß man schon vorher, was später wichtig sein wird?
Alles kann wichtig sein. Achte auf alles, was um dich herum geschieht, jedes Detail kann wichtig werden, wer weiß, wofür man es später wissen muss. Achte auf alles, Kleiner. Auch auf die Nebensächlichkeiten! Das hat Horschi von Vater gelernt, Vater hat gut für ihn gesorgt, Vater hat auch den Spiegel angeschraubt und Vater hat Horschi das Morsealphabet beigebracht, mit dem Vater sich im Krieg verständigt hat, per Funk oder mit Lampen.
Wie ist es möglich, dass man so eine wichtige Sache, welcher Briefträger im Laubengang zur Wohnungstür kommt, nicht bemerkt?
Irgendetwas hat sich verändert.
Kurbjuweit bekommt selten Post, er hat wenig Verbindungen. Er will auch gar keine Briefe bekommen, solche nicht und auch keine von seiner Verwandtschaft, diesen zigtausend Mal verfluchten Sau- und Schweineköppen, geiziges Pack mit toten Seelen, die sollte der Teufel holen, denn von denen taugte keiner was, höchstens noch Magda. Die hat
Weitere Kostenlose Bücher