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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Prolog
     
    Oder jenseits der Gerechtigkeit
     
    Ich werde es Ihnen erklären.
    Ich muss mich nicht rechtfertigen. Ich würde es jeden Tag wieder so tun. Jeder, der bei Verstand ist, hätte gehandelt wie ich. Alles, was ich getan habe, beruht auf nüchterner Überlegung.
    Also:
    Eine Frau berührte mich. Sie seufzte, rieb ihren Leib brünstig an meinem, ihre Brüste an meiner Wange. Ich spürte es, so wie ich jetzt meinen rechten Handballen über das Papier rucken spüre beim Schreiben.
    »Wach auf!«
    Keine Brüste mehr. Nur ein kalter Luftzug. Ich brachte ein Auge auf, sah eine Hand über meinem Gesicht. Der Fingernagel am kleinen Finger eunuchenhaft lang und zu einer Kralle gebogen.
    Ein Trugbild. Ich schloss mein Auge.
    Und wieder fühlte ich diese wunderschönen Brüste an meinem Gesicht, an meiner Haut. Die Warzen richteten sich auf. Sie strömten einen betörenden Duft aus, nach Schweiß und Honig. Ich wollte sie küssen, sie in mich aufnehmen, die Frau umarmen. Aber sie kicherte und hielt meine Hände fest.
    »Komm, Liebste«, hörte ich mich sagen. Ich hatte mich noch nie getraut, so zu einer Frau zu sprechen. Ich habe nicht sehr viel Erfahrung mit Frauen. Ich fühlte mich frei von aller Last.
    »Du Schlingelchen, du schlimmes, sei still …«
    Still sollte ich sein. Die Hände hielt sie mir fest. Ich hätte sie so gern umarmt.
    »Du bist mir einer! Pennst mir glatt weg!«
    Das war nicht ihre Stimme. Das war eine trockene blecherne Stimme, die Stimme eines Automaten.
    Ich sah in ein verschrumpeltes Kindergesicht, auf dem sich dürre Büschel fetter Haare sträubten.
    »Hast du auch ’ne Frau umgebracht, Kumpel?«
    »Wieso soll ich eine Frau umgebracht haben?«, fragte ich und wollte fort von diesen Augen, die mich anstarrten, die nicht genug Platz hatten in diesem verdorrten Gesicht.
    »Weil du nach ihr gerufen hast, nach deiner Liebsten«, lachte es, »und da dachte ich, du hättest auch mal eine umgebracht und ich könnte mit dir darüber reden … Ich bringe nämlich immer Frauen um, ich …«
    »Was?!«
    Ich wollte fort, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich war noch müde, gefangen im Schlaf.
    »Frauen …«
    Sein Kopf war wie eine Backpflaume an einem dürren und knochigen Leib, er schwankte über mir hin und her, der Schatten eines rattenhaften Grinsens huschte über sein Gesicht.
    »Frauen sind so … Und wenn ich eine schlachte, dann mache ich immer …« Er tippte mir den Zeigefinger auf die Stirn.
    »Lass mich!«
    »Willst wohl nicht zuhören? Musst aber zuhören! Will dir erzählen von der Roswitha, die Letzte, die ich müde gemacht habe, sie hatte so viel Blut, sie …«
    Er schluckte trocken, er hatte einen Adamsapfel so dick und ledrig wie eine Kröte. Dann lachte er und es klang wie das Keckern eines Fasans, der auffliegt.
    »Hör auf!« Ich wurde wütend. Endlich war ich richtig wach, ich wollte mich aufrichten, aber etwas hielt mich, und eine Angst durchfuhr mich, als ich merkte, dass ich gefesselt lag.
    »Se ham dich festgemacht, Freundchen. Festgemacht ham se dich, ganz fest, so wie ich die Roswitha festgemacht habe …« Die Backpflaume grinste ihr Schattengrinsen.
    Jetzt erst fielen mir die beiden anderen am Fenster auf. »He, ihr zwei, kommt mal bitte her, ich will …«
    Der eine drehte sich um. Er hatte ein totes Gesicht und Asche in den Augen.
    »Wo bin ich?!«
    Ich hatte Angst wie noch nie in meinem Leben, noch nicht einmal an jenem Tag, den ich den Tag der Entscheidung nenne, der jetzt schon Monate zurückliegt. Inzwischen ist November. Ich hatte keine Waffe. Ich hatte noch nicht einmal meine Hände. Es rauschte in meinen Ohren. Es war, als wenn du gesprungen bist – dir bleiben noch ein paar Sekunden, bis du aufschlägst: das Ende.
    Die Backpflaume grinste. »Na rate mal, wo du bist. Bei uns biste, hähähä.« Er keckerte wieder wie ein Fasan, schrill und laut und schüttelte die Knochen seines Kinderleibes.
    Der andere am Fenster drehte sich um. Er hatte eine wulstige Unterlippe, die tief herabhing, und blöde Augen unter halben Lidern in einem mächtigen Schädel, auf dem rote Haare wuchsen.
    »He, ihr, macht mich los, macht mich …«
    Der mit den Ascheaugen wandte sich ab und sah wieder aus dem Fenster. Der Wulstlippige machte es ihm nach, in Zeitlupe. Das Fenster hatte keinen Griff. Die Tür keine Klinke.
    »Ihr müsst mich …!« Ich zerrte an meinen Fesseln. Sie schnitten mir ins Fleisch.
    »Geht nicht, Mann. Geht nicht«, sagte die Backpflaume. »Und jetzt erzähle

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