Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
Vom Netzwerk:
sich um die Königin der Gemüsepflanzen handelte, wie Christa behauptete. Vielleicht war doch nichts gebrochen?
    »Warum antwortest du nicht!?«
    Jetzt das Gesicht. Der Kiefer fühlte sich stramm an wie ein Lkw-Reifen.
    »Ahhh.« Die Stimme jedenfalls funktionierte noch.
    »Was hast du gesagt?«
    Schlüter betastete seine Unterlippe. Schlauchboot. Dahinter schien es noch fest. Diese Freilandtomaten waren komplizierte Gewächse. Sie vertrugen keine Kälte. Schon Temperaturen unter acht Grad führten zu Wachstumsstörungen. Die gute Ernte stand auf dem Spiel. Da waren ein paar Zähne natürlich egal. Ob er die ein paar Jahre früher oder später abgeben würde. Zum Tomatenessen brauchte man keine Zähne.
    »Peter, so antworte doch!«
    Schlüter zog sich mit der gebrochenen Hand die Hollywoodlippe vor und tastete mit der guten Hand die lädierte Zahnreihe ab. »Ahhh.«
    Die Tür ging auf, das Licht aus dem Wohnzimmer traf den Verletzten ins Gesicht.
    »Was machst du denn da, fehlt dir was?«
    »Jaaa …«
    Christa ging vor Schlüter auf die Knie. »Und was?«
    »Zähne«, nuschelte er.
    Und dann hörte er das Telefon klingeln. Es hörte sich irgendwie bedrohlich an. Immerhin, eine Verbindung zur Außenwelt gab es. Und die Ohren waren nicht beeinträchtigt.
    »Was sagst du da?!«
    »Zähne«, nuschelte Schlüter und griff nach Christas Hand. »Eisheilige verdammte Schafskälte! Ich hasse Tomaten!«
    Das Telefon klingelte immer noch. Musste das gerade dann sein, wenn die Frau vor dem Manne kniete?
    Christa war verschwunden. Sie murmelte in der Stube.
    Schlüter wusste, das war eine Bürosache. Sie waren vom Mist in die Jauche geraten. Sie waren aus der begrenzten Anonymität, die eine langweilige Kleinstadt namens Hemmstedt bot, ins Hollenflether Moor gezogen, nach Engelsmoor, wo jeder jeden kannte und man im Scheinwerferstrahl nachbarlicher Neugier lebte. Privatsphäre war eine Erfindung der Neuzeit, des arbeitsteiligen modernen Lebens, das auf dem Lande noch keinen Einzug gehalten hatte. Wenigstens hätten sie ihre neue Privatnummer nicht ins Buch eintragen lassen sollen, aber Christa hatte gemeint, man dürfe sich nicht zu sehr abschotten, sonst würden die Nachbarn denken, Schlüters hielten sich für etwas Besseres. Man soll sein Handeln nicht vom Urteil der Leute abhängig machen, dachte Schlüter, das zerstört die Unabhängigkeit, für die die Vorfahren gestorben sind.
    Christas Silhouette erschien im Dunkeln, er hoffte, sie würde ihn trösten, seine Wunden verbinden, ihn liebkosen. Aber ihre Hände taten nichts dergleichen, sie verdeckten nur die Sprechmuschel und hielten eine der filterlosen Feierabendzigaretten, ihr dünner Rauch verflüchtigte sich in der Nacht und nervte wahrscheinlich die Fledermäuse.
    »Henry, von Diedrich Schlichtmann der Sohn«, flüsterte sie.
    Schlüter nuschelte erneut Unverständliches. Er war schwer verletzt und konnte nicht telefonieren. Er brauchte Zuwendung.
    Christa verschwand wieder im Flur.
    Schlüter blieb sitzen. Er drehte und streckte den Fuß. Schien zu funktionieren. Mit der lädierten Hand machte er ein paar Übungen. Greifen, Schwenken, Schütteln. Sie funktionierte auch. Der Schmerz ließ nach.
    Zehn Minuten später schlürfte Schlüter statt des Rotweines einen adstringierenden Salbeitee aus eigenem Anbau auf seinem Lesesessel. Christa hatte ihm Arnikasalbe aufgetragen, ihre zärtlichen Hände heilten mehr als die Medizin. Gesundes Landleben. Man verletzte sich bei gefährlichen Tätigkeiten und heilte sich mit selbst gezogenen Kräutern. Die Zähne, die ihm der Zahnarzt gelassen hatte, waren noch drin, nur eine wulstig aufgequollene Fleischwunde innen an der Unterlippe störte. Christa rauchte schon wieder, ob vor Schreck oder aus Genuss – er fragte nicht.
    »Schlichtmann bittet dich, sofort rüberzukommen«, behauptete Christa ernst. »Er sagt, es geht um Leben und Tod.«
    Das fehlte noch.
    Schlüter seufzte und betastete mit der Zunge die Wunde an der Lippe. Das wütende Brüllen eines Motors drang durch das Dunkel der heraufziehenden Nacht. Es schwoll auf und ab, starb fast, würgte kraftlos, und dann heulte es wieder auf und war lauter als zuvor. Schlüter lauschte.
    »Hörst du?«
    Christa nickte.
    »Was hat das zu bedeuten? Um diese Zeit!«
    »Keine Ahnung. Klingt so, als wär das bei Schlichtmanns.« Christa schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Morgen«, sagte sie. »Ich habe gesagt, du bist nicht da, und dass wir morgen Vormittag vorbeikommen.«

Weitere Kostenlose Bücher