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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Muehl
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zwischen ihr und ihm beschränkt sich aufs Chatten, Skypen und Mailen, zu besonderen Anlässen schicken sie sich eine Videobotschaft. Die Kommunikation der beiden ist in etwa so zugewandt, als würden sie mit dem Sprachcomputer einer Servicehotline verhandeln. Daran ist nichts ungewöhnlich, die digitale Welt hat einen Berührungspunkt nach dem anderen abgeschafft und den familiären Begegnungsraum erobert.
    Seinen Vater sieht Holden nicht. Wie die Kinder und Jugendlichen in seinem Umfeld sitzt er innerlich auf gepackten Koffern. Die Familie ist kein Sozialisationsraum, sie gleicht von A bis Z einer Konsumgemeinschaft, in der zwar alle aus demselben Kühlschrank essen, sich aber niemand für irgendetwas verantwortlich fühlt, weil niemand irgendeine Verpflichtung eingeht. Zu seinen Stiefvätern hat Holden deshalb höchstens eine oberflächliche Beziehung. Eigentlich sind sie ihm egal.
    Auch Kinder sind ihm egal. Die Kindheit ist pervertiert, sie hat ihr reines, unschuldiges Gesicht verloren. Sie länger zu verteidigen, wäre zwecklos. In den »verrückten Abgrund« am Ende des Roggenfeldes, in die verdorbene Erwachsenenwelt,vor der Salingers Caulfield die Kinder so gerne beschützen würde, sind sie längst gestürzt. In ihren Badezimmern steht neben dem Pickelstift eine Packung Psychopharmaka, die Apotheken rezeptfrei verkaufen und die die Kinder mit einer Ungezwungenheit schlucken, als seien es Vitamintabletten. Seit Depressionen nicht länger mit Diabetes und Bluthochdruck um den Spitzenplatz kämpfen müssen, seit sie tatsächlich unangefochten die Volkskrankheit Nummer 1 sind, wird kein Betroffener mehr stigmatisiert. Das Leiden, das Verzweifeln am Selbst trifft uns wie einen Schnupfen.
    Holden Caulfields Privatschule würde nicht mehr damit werben, Jungen zu tüchtigen, klar denkenden jungen Männern zu formen, sondern den Eltern versprechen, aus ihren Kindern durchsetzungsfähige, gewinnorientierte, unabhängige, hart arbeitende Entscheidungsträger zu machen. Gehirngedopt und psychologisch betreut würde Caulfield die Anforderungen meistern und das von ihm verlangte Pensum erfüllen. Die Schule ist Lern-, Erziehungs-, Ausbildungs- und Heilanstalt in einem. Auch die hysterischen Warnungen vor den schädlichen Einflüssen der Medien sind verklungen. Kein Experte wagt es, sich öffentlich zum Gefahrenpotenzial von Killerspielen zu äußern, da das Abstellen eines Kindes vor dem Computer viel zu praktisch ist.
    In Caulfields Familie, die aus ihm und seiner Mutter besteht, kommt keiner auf seine emotionalen Kosten. Sämtliche Funktionen, die eine Familie einmal erfüllen musste, wurden outgesourct. Nicht dass Caulfield darunter leidenwürde, er kennt es nicht anders. Die Idee, in seinem Geschichtslehrer einen Vaterersatz zu suchen, käme ihm bescheuert vor.
    Holden Caulfield ist Einzelkind, fast alle Kinder sind Einzelkinder. Tanten und Onkels existieren nicht, der Kontakt zu seinen Großeltern ist abgebrochen. Er ist weder Neffe, Pate, Enkel noch Bruder. Seine rührende Romanschwester Phoebe, »die gute Phoebe«, jenes Mädchen, auf das sich seine ganze Zärtlichkeit und Verantwortung richtet, weshalb er es nie übers Herz gebracht hätte, fortzugehen, sie zurückzulassen, wäre nicht bei ihm. Caulfields einzige soziale Rolle ist die des Sohnes – zumindest auf dem Papier.
    Sämtliche Freundschaften haben sich in die Virtualität des Internets verlagert. Erst führte das Mobiltelefon dazu, dass keine Verabredung mehr verbindlich ist, dann machten die sozialen Netzwerke dem Verabredungsstress ein Ende. So wäre auch Sally Hayes keine von Caulfields Freundinnen aus Fleisch und Blut, sondern eine Internetbekanntschaft. Holden und sie würden sich elektronische Liebesbriefe schreiben, anstatt gemeinsam eine Matinee zu besuchen. Er wüsste nicht, dass sie phantastisch aussieht, aber schrecklich dumm ist, ihre Liebe spielt sich ausschließlich im Netz ab. Es ist der Ort ihrer Romanze. Hinter E-Mail-Adressen versteckt, breiten sie ihr Seelenleben voreinander aus, ohne etwas preiszugeben. Von Anfang an wäre klar, dass sie sich im wirklichen Leben nicht treffen werden. Jede Begegnung zerstört die Illusion. Die Realität ist nie so aufregend wie die Phantasie. Bei der Liebegeht es nicht mehr um den anderen, nur noch um die Vorstellung, die man sich von ihm macht.
    Diese Liebe ist ungefährlich.
    Holden Caulfield ist ganz und gar wurzellos, es gibt nichts, was ihn hält. Er würde einfach eine Tasche nehmen und seine

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