Die Patchwork-Luege
konnte, aber hervorragend sehen und immer ein Auge darauf warf, ob der Herd auch wirklich ausgeschaltet war, und eine Großmutter, bei der es sich genau umgekehrt verhielt, die alle Einkäufe erledigte und was sonst anstand.
Andere haben Pech. Ihnen hilft nur die eigene Vorstellungskraft.
Letzten Endes trägt freilich jeder für sein Leben die Verantwortung. Es wäre leicht, seine Neurosen, Schwächen und Bindungsstörungen den Eltern in die Schuhe zu schieben und resigniert zu sagen: Ich bin eben ein Scheidungskind. Und doch muss einem klar sein, dass Scheidungen einen erheblichen Einfluss auf das Selbstverständnis haben.
Um auf Wallersteins Studie zurückzukommen: Die Retraumatisierung erwachsener Scheidungskinder überraschte die Forscherin am meisten. Viele leiden im Erwachsenenalter heftiger als in der Kindheit. Zu einem Zeitpunkt,da die meisten Probanden überzeugt waren, ihren Schmerz überwunden zu haben, traf er sie wie ein Bumerang. Erneut wurde ihr Leben auf den Kopf gestellt. Die zweite Lebenskrise ereignete sich in der Regel im Alter zwischen dreißig und vierzig. Das sind bekanntermaßen die Jahre, in denen sich das Gefühl, alles könnte eigentlich so unverbindlich wie bisher weiterlaufen, sehr schwer aufrechterhalten lässt. Freunde und Bekannte heiraten, im Briefkasten liegen Einladungen zu Taufen und Einweihungspartys von Reihenhaushälften außerhalb der Stadt. Man wird Zeuge, wie fundamental sich das Leben der Menschen um einen herum verändert. Außenstehende, besonders Scheidungskinder, spüren natürlich nichts von der Panik, die vor einer Hochzeit in einigen Paaren hochsteigt, sie sehen nur, was sie sehen wollen, die scheinbare Leichtigkeit, mit der andere ihrem Leben eine neue Richtung verleihen, in die sie zukunftsfroh blicken. Dahinter vermuten sie eine innere Logik, die es in ihrem Leben nicht gibt und niemals geben wird. Darauf sind Scheidungskinder neidisch. Die vermeintliche Fraglosigkeit der Heile-Welt-Bilder weckt gleichzeitig Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, als sie zu Geburtstagen von Freunden aus intakten Familien eingeladen waren und einen Nachmittag lang erlebten, was sie verloren haben.
Unausweichlich fällt der Blick auf ihr eigenes Leben: Heiraten? Kinder kriegen? Aufs Land ziehen? Allein bleiben? Sich festlegen? Wer ist der/die Richtige? An solchen Fragen verzweifeln Scheidungskinder. Es ist in etwa so, als müsste man ein kompliziertes Regalsystem ohne Bedienungsanleitungzusammenschrauben, ohne dass einem dabei irgendjemand hilft. Jedem ist das mulmige Gefühl, ob der Partner einen womöglich enttäuschen wird, bekannt. Scheidungskinder rechnen oft damit, dass der andere sie verletzen wird. Nicht zufällig tritt das, was sie am meisten befürchten, in vielen Fällen auch ein. Unbewusst greifen viele Scheidungskinder auf die Muster der Vergangenheit zurück und tappen exakt in jene Falle, vor der sie die größte Angst hatten. Sie reinszenieren ihre frühen Erfahrungen in der Gegenwart. Der »Wiederholungszwang« soll heilen, was sich nicht heilen lässt, die Kindheitsgeschichte ist bereits geschrieben.
Die Opfer der Vergangenheit sind die Täter der Zukunft.
Die einen heiraten einen Mann, der in seiner Art und seinem Charakter dem Vater verblüffend ähnelt, weshalb er sie auf ähnliche Weise enttäuscht, die anderen geben sich am selben Tag das Ja-Wort wie die geschiedenen Eltern, ohne es zu wissen. Solche Verhaltensweisen zeigen, wie erdrückend das Bedürfnis sein kann, das verwundete Kind in einem zum Schweigen zu bringen. Frühe Verlusterfahrungen vollständig zu überwinden gelingt selten, was nicht heißt, dass Scheidungskinder keine funktionierenden Beziehungen führen können, ihre Ausgangsbedingungen sind nur erheblich schlechter als die von Kindern Nichtgeschiedener. Ihr Weg zum Ziel führt oft über komplizierte Umwege.
Misstrauen sich selbst und anderen gegenüber ist ein Wesenszug vieler Scheidungskinder. Sie sind darauf trainiert, nach dem Haken zu suchen – und ihn zu finden.Das Glas, das für andere halb voll ist, ist für sie halb leer. Glück ängstigt sie. Für Scheidungskinder gilt eine simple Regel: Wer den schlimmstmöglichen Fall in Betracht zieht, wird weniger erschüttert sein, wenn er tatsächlich eintritt.
Karen, eine von Wallersteins Probanden, verheiratet, Mutter, wartet, obwohl sich ihr Leben wunderbar anfühlt, immerzu auf den nächsten »Hammer«. »Wenn Sie mich fragen, ob ich noch immer Angst habe, dann antworte ich mit
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