Die Asche der Erde
K APITEL EINS
Die Gesichter der vielen Kinder, die er nach ihrem Freitod vom Ende eines Stricks geschnitten oder am Fuß einer Klippe geborgen hatte, ließen Hadrian Boone nicht mehr los. Sie suchten seinen unruhigen Schlaf heim und schlichen sich dermaßen häufig in irgendwelche grauenhaften Tagträume, dass er nun, als oberhalb auf dem Hügelkamm plötzlich ein blondes Mädchen mit einem Seil auftauchte, unschlüssig zögerte und sich fragte, ob auch das nur eines seiner Hirngespinste war. Dann blieb sie stehen und streckte die Hand nach einem kleineren rothaarigen Mädchen hinter ihr aus. Hadrian ließ die Schaufel fallen, mit der er gerade die alte Senkgrube der Kolonie leerte, raffte die Kette auf, die um seine Fußgelenke lag, und rannte los.
Stolpernd hastete er den steilen Hang der Senke hinauf, ohne sich um den überraschten Ausruf seines schläfrigen Bewachers und das wütende Schrillen der Pfeife zu kümmern. An Wurzeln und Schösslingen zog er sich bis zur Gratlinie empor, bog dort auf den Pfad ein und rechnete damit, dass jeden Moment ein Knüppel auf seinen Rücken hinabsausen würde. Dann ertönte von der anderen Seite des Kamms ein spitzer Schrei und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er erreichte das offene Felssims. Ein Ast ragte über die Kante. An ihm baumelte ein Seil. Hadrian sprang vor und hievte das Kind mit verzweifeltem Ächzen nach oben. Dann hielt erverblüfft inne. Vor ihm auf dem Boden lag kein Kind, sondern ein alter Mantel, den man über einen Rahmen aus Stöcken gehängt hatte. Die blicklosen Augen eines Kürbiskopfes starrten ihm entgegen, und das vermeintliche Haar war getrockneter Weizen.
Das Kreischen erklang erneut, und Hadrian erkannte mit einem Mal, dass es sich um Gelächter handelte. Die beiden Mädchen hinter ihm waren ganz begeistert, weil er auf ihren Streich hereingefallen war. Weitere Kinder prusteten los, mindestens ein halbes Dutzend, verborgen im Schatten der Bäume.
»Schluss damit, Sarah«, tadelte Hadrian das ältere Mädchen und stand auf. »Nicht dieses Spiel. Ihr habt bei mir Besseres gelernt.« Er sah nun, dass an die Brust der Puppe ein Foto geheftet war, eine Werbeanzeige aus einer längst vergessenen Zeitschrift: Eine Frau fuhr ein rotes Cabrio voller fröhlicher Kinder, die Hamburger aus Tüten aßen. Viele Kinder hielten derartige Fotos für den Beweis, dass es auf der anderen Seite ein Paradies gab, und versuchten daraufhin, in das ersehnte Himmelreich zu gelangen. In der Kolonie Carthage war der Privatbesitz von Büchern und Zeitschriften aus dem letzten Jahrhundert schon seit Langem untersagt, weshalb die Kinder sie nur umso eifriger horteten. Es gab keine Autos mehr und auch keine Drive-in-Restaurants mit Fast Food, und die einzige Religion der meisten Familien war diejenige, die die Kinder sich anhand der verbotenen Annalen einer verlorenen Welt irgendwie selbst zusammenreimten.
»Was sollen die Steine?«, fragte Hadrian und bückte sich, um den Kürbiskopf herumzudrehen. Die Augenhöhlen fielen an der Figur als Erstes auf; in ihnen steckten blaue Kiesel als Pupillen.
Sarah schaute zu einem schmächtigen Jungen im Hintergrund, der größer als die anderen war. »Dax hat gesagt, seineAugen würden verschwinden. Das hat er bei den anderen gesehen, die hinübergehen. Er sagt, du nimmst deine Augen mit auf die andere Seite, denn dort lebt deine Seele.«
»Sein oder Nichtsein, Amen!«, rief das kleinere Mädchen dazwischen.
»Sein oder Nichtsein, Amen!«, wiederholten die Kinder unter den Bäumen sogleich.
Diese sonderbare, beflissen vorgetragene Gebetsformel ließ Hadrian erschaudern. Er setzte sich auf einen Baumstumpf. Seine Verzweiflung war wie eine körperliche Schwäche. Er hatte sich dagegen ausgesprochen, der jüngeren Generation die Wahrheit vorzuenthalten, hatte argumentiert, gefleht und protestiert, bis er von seinem Posten als Schulleiter der Kolonie abgesetzt worden war. Wenn man der Jugend keine Erklärungen für ihre Welt lieferte, würde sie sich stets eine eigene Wahrheit erschaffen. Für Hadrian waren die Kinder von Carthage inzwischen auch nur noch eine Schar von Gefangenen. Er warf einen Blick auf Dax und befürchtete das Schlimmste, denn der Junge schien sich mit Selbstmorden viel zu gut auszukennen. Dann musterte er kopfschüttelnd die Mädchen und fing an, die Puppe auseinanderzunehmen.
Sarah und ihre jüngere Schwester setzten die gekränkten Mienen auf, die ihm aus dem Klassenzimmer noch bestens vertraut waren.
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