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Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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voneinander zu unterscheiden wie Nacht und Tag. Cadvans Worte hingegen schienen darauf hinauszulaufen, dass dem ganz und gar nicht so war und dass Gewissheit nur ein tröstliches Wunschdenken darstellte.
    »Glaubst du denn, dass wir das Richtige tun?«, fragte sie schließlich.
    Cadvan antwortete zunächst nicht, dann seufzte er. »Ja, ich denke schon«, sagte er. »Zumindest geben wir unser Bestes, wohl wissend, wie wenig wir bewirken. Aber manchmal hat man nicht die Wahl zwischen richtig und falsch, sondern nur zwischen Gut und Böse.«
    Dann rief Owan Cadvan zu sich, weil er weitere Hilfe mit dem Wind brauchte, und der Barde ließ Maerad an der Reling zurück, wo sie grübelnd zurück auf die brennende Stadt starrte.
    Als das Boot den Hafen durchquerte und eine weiße Furche durch die Wellen zog, erstarben die Kampfgeräusche völlig unter dem leisen Knarren der Segel und dem Rauschen der Wogen. Maerad betrachtete lange die Zitadelle und spürte, wie das Zittern ihrer Glieder allmählich nachließ.
    Die Schiffe entlang des Kais brannten immer noch und warfen einen flackernden Schein auf das Wasser, und mit einem Anflug von Entsetzen sah Maerad außerdem Flammen in den oberen Kreisen züngeln. Der Erste Kreis schien lichterloh zu brennen. Sie dachte an Nelac; er hatte gesagt, er würde seine Schüler hinab in tiefer gelegene Gefilde führten. Bestimmt würden sie sich nicht mehr im Ersten Kreis aufhalten, oder? Sie hoffte inständig, dass Enkir tot war. Vielleicht konnte dann der Zirkel wiederhergestellt werden.
    Trotz allem, was in den vergangenen Stunden geschehen war, fühlte Maerad sich so wach wie nie zuvor. Sie war zwar zu Tode erschöpft, aber keineswegs schläfrig. Langsam ließ sie den Blick über die Weiten des Wassers wandern und spürte, wie sie sich entspannte. Und zum ersten Mal seitjenem Abend dachte sie an ihre Einführung zurück: an das lodernde Feuer, das sie durchdrungen und sie verwandelt hatte. Sie war nun anders. Sie war die Feuerlilie, Elednor von Edil-Amarandh.
    Maerad setzte sich auf das Deck und blickte suchend zu den Sternen empor. Dort, einsam und hell, strahlte Ilion genau so, wie sie ihn auch in Gilmans Feste gesehen hatte. Sie dachte an Hem: Wo mochte er sich gerade befinden? Schaute auch er zum Nachthimmel empor und dachte an sie? Und vielleicht hatte auch ihre Mutter Milana dasselbe getan; vielleicht hatte auch sie nach dem strahlenden Juwel Ilions am Firmament gesucht und es als ihren Stern betrachtet.
    Auf Erden, dachte Maerad, plagten sich die Menschen, litten und starben. Berührte all dieser Kummer Ilion? Sie fragte sich, ob die Sterne die Schwingungen menschlicher Freude, Trauer oder Verzweiflungen zu spüren vermochten. Wussten die Sterne, was richtig und was falsch war? Was bedeuteten die Finsternis und das Licht für sie? Maerad erinnerte sich daran, was Ardina zu Cadvan gesagt hatte: An dunklen Orten strahlt Licht umso heller. Vielleicht entwickelte sich in solcher Ferne zu menschlichen Belangen ein anderes Muster aus dem Chaos, eine andere Art von Notwendigkeit, und das Böse wurde zum Teil einer größeren Musik.
    Maerad starrte weiter in den Himmel und spürte, wie ihr Herz im Leib pochte, wie das Blut durch jede noch so winzige Ader floss. Sie hatte das Gefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben die verschlungenen Beziehungen zwischen allen Dingen zu begreifen, ein Geflecht von unendlicher Schönheit und Mannigfaltigkeit. Zwischen der kleinen Kugel ihres Auges und dem fernen Stern spürte sie das Ziehen eines winzigen, schimmernden Fadens, einen Bruchteil der unendlichen Anziehungskräfte, die alles Lebendige und alles Tote miteinander verwoben, alles Ferne und alles Nahe, alles Kleine und alles Gewaltige, zu einer sich stetig wandelnden und erneuernden Welt. Als dieses Verständnis in ihr keimte, wichen die Ängste, die sie heimgesucht hatten, allmählich von ihr und lösten sich auf. Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, dachte sie ohne Wehmut an ihre Mutter. Sie sah sie vor ihrem geistigen Auge, groß, ungebrochen und wunderschön. Milana, Oberste Bardin von Pellinor. Nun wäre sie stolz auf ihre Tochter.
    Mit einem kribbelnden Hochgefühl sog Maerad die Nachtluft ein. Es kümmerte sie nicht, was die Zukunft bereithielt, welch gefahrvolle Reisen und verschwommen erahnte Schrecken ihrer harrten. In dieser Nacht genügte ihr die Gegenwart.

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