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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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der Terrasse?«
    »Moment, ich komme«, sagte Ambra.
    Sicher wollte der Engel nicht gesehen werden, denn sobald er Signora Flora gehört hatte, kletterte er in den Wassertank. Ambra half ihm und ging dann schnell hinunter zu Signora Flora.
    Am nächsten Tag kam Ambra bei Tisch plötzlich ein Gedanke. Aßen Engel eigentlich? Es gelang ihr, Brot und ein bisschen Käse im Ärmel zu verstecken, ohne dass jemand etwas davon merkte, und als die Nacht gekommen war, stieg sie hinauf auf die Terrasse.
    »Angelo!«, flüsterte Ambra.
    Angelo blickte müde unter dem Fallschirmstoff hervor. Er lag noch immer zusammengekauert in dem geborstenen Wassertank und lächelte, als er sie sah. Im Handumdrehen hatte er das Brot und den Käse hinuntergeschlungen. Dieser Engel hat schon lange nichts mehr gegessen, dachte Ambra. Und er hatte nicht nur Hunger, er zitterte auch vor Kälte, nackt wie er war. Sieh nur, wie eigentümlich! Engel sehen aus wie Menschen! Ambra wollte dem armen Engel helfen, aber wo bekäme sie jetzt Männerkleider her? Sie bedeutete dem Engel, er solle warten, stieg die Treppe hinab und klopfte leise an Signora Floras Tür.
    »Signora, ich bin’s, Ambra.«
    »Komm rein. Was gibt’s?« Signora Flora schaltete das Licht an.
    Als sie Ambra sah, erschrak sie, denn das Mädchen hatte einen irren Blick, und ihr Mund war zu einem seltsamen Lächeln verzogen.
    »Signora, ein Engel ist mir erschienen, oben auf der Terrasse. Da ist er noch immer.«
    Gute Nacht! Jetzt hatte sie endgültig den Verstand verloren. Da hieß es Ruhe bewahren. »Gut. Wenn er morgen noch da ist, dann …«
    »Nein, Signora, er stirbt vor Kälte, wir müssen uns beeilen!«
    Ein Engel, der vor Kälte stirbt? Signora Flora kam das alles höchst merkwürdig vor.
    »Gehen wir.«
    Und das war Angelos Rettung. Als Signora Flora ihn sah und seinen Fallschirm, ging sie ins Haus zurück und kam mit zwei Wolldecken und einem Kissen wieder. Sie brachte ihm ein großes Stück Brot, zwei rohe Eier, ein Stück Käse, Oliven, eine Flasche Wasser und eine Flasche Wein. Er könne beruhigt sein, gab sie ihm zu verstehen, sie werde sich um ihn kümmern. Da fing Ambra an zu schreien:
    »Das ist mein Engel!«
    Geduldig versicherte ihr Signora Flora, dass niemand den Engel anrühre, dass er nur ihr gehöre und dass sie ihn jede Nacht besuchen dürfe.
    Doch Signora Flora wusste, was zu tun war. Ein paar Tage später bestellte sie zwei Maurer, die sie nach oben auf die Terrasse schickte, wo sie den beschädigten Wassertank reparieren sollten. Als die beiden Maurer mit ihrer Arbeit fertig waren und die Treppe wieder hinunterstiegen, waren sie plötzlich zu dritt. Ambra – die in den letzten Tagen festgestellt hatte, dass Engel liebten wie Männer, nur besser, wie Engel eben – trat in dieser Nacht auf die Terrasse hinaus und sah, dass der Tank wieder mit Wasser gefüllt und ihr Engel verschwunden war. Sie rief nach Angelo, sah nach, ob er sich vielleicht in einem der anderen Wassertanks versteckte, aber von dem Engel keine Spur. Tränenüberströmt weckte sie Signora Flora.
    »Er ist verschwunden! Was habe ich nur falsch gemacht?«
    »Nichts, Ambra. Er ist fortgegangen, als du gearbeitet hast, und er hat mich gebeten, dir auszurichten, dass er dich lieb hat und gerne länger geblieben wäre, aber man hat ihn ins Paradies zurückberufen. Es scheint, dass sie im Moment wirklich alle Hände voll zu tun haben. Er dankt dir für alles und möchte dir dies zum Andenken schenken.«
    Sie zog unter ihrem Bett eine lange weiße Vogelfeder hervor. Sie stammte von einem seltenen Vogel, der in Afrika lebte, und viele, viele Jahre zuvor hatte der einzige Mann, den sie im Leben je geliebt hatte, sie ihr einmal geschenkt. Sie hatte die Feder für immer behalten wollen, doch jetzt reichte Signora Flora sie dem Mädchen ohne Wehmut.

Fünftes Kapitel
Eine Zeit in der Hölle
    Einst, wenn ich mich recht erinnere, war mein Leben ein Fest,
    wo sich alle Herzen öffneten, wo alle Weine flossen.
    Eines Abends hab ich mir die Schönheit aufs Knie gesetzt.
    Und ich hab sie bitter gefunden.
     
    ARTHUR RIMBAUD, Eine Zeit in der Hölle
     
    In den ersten Märztagen des Jahres 1943 versetzten andauernde Fliegerangriffe die Stadt Tag und Nacht in Schrecken. Zwischen den Bombenangriffen lag höchstens eine halbe Stunde, in der die Bewohner Zeit hatten, das Wichtigste zu organisieren. Die Amerikaner kämpften auf der Seite der Engländer. Ziellos warfen die Kampfflugzeuge ihre Bomben ab, es blieb dem

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