Die Pension Eva
Mutter, sein Nonno und seine Nonna, seine Onkel und Tanten, kurzum alle in seiner Familie, dass er, genannt Minicuzzo, stotterte. Es war eine Qual für ihn und für alle, die ihm zuhören mussten.
In der Grundschule hänselten ihn die Klassenkameraden. Die Lehrerin fragte:
»Und wie heißt du?«
»Do … Do … Do …«
»… re mi fa sol la si«, sang die Klasse im Chor.
»Pio … Pio … Pio …«
»Kikeriki! Kikeriki!«, sang die Klasse.
Weil er aber sehr schnell schreiben und lesen lernte, trug er von da an immer einen Zettel bei sich, auf den er schrieb, was er zu sagen hatte. Er schloss die höhere Handelsschule ab und fand eine Anstellung bei der Gemeinde. Mit fünfundvierzig heiratete er eine Frau, die fünf Jahre jünger war als er und bis zu diesem Zeitpunkt mit ihren Eltern zusammengelebt hatte. Sie verließ das Haus nur, um zur Kirche zu gehen. Nach sechs Monaten Ehe begriff Minicuzzo, dass Luisina, seine Frau, ihm diese bestimmte Sache nur einmal im Monat erlaubte. Es musste stockdunkel sein, und sie schob das Nachthemd gerade so weit hoch wie nötig. Und während er sich abmühte, betete Luisina mit leiser Stimme Verwünschungen und das Paternoster.
»Wie … wie … wie … wieso be … be … be … betest du?«
»Um nicht der Sünde des Fleisches zu verfallen.«
Nach sieben Monaten Ehe begann Minicuzzo Piolo, regelmäßig in die Pension Eva zu kommen. Er war zwar schon vor seiner Ehe ab und zu dort gewesen, jetzt aber ging er jeden Samstagabend hin.
»Wohin gehst du?«, fragte Luisina ihn nach über einem Jahr, als ihr Mann samstags wieder einmal das Haus verließ.
Sie begriff nicht besonders schnell, was um sie herum passierte, und wirkte immer ein bisschen abwesend.
»Ich spiele mit Onkel Tano Karten«, schrieb Minicuzzo auf seinen Zettel.
Das stimmte wenigstens zum Teil. Minicuzzo spielte schnell eine Runde mit Onkel Tano, und danach eilte er zur Pension Eva. Doch nach zwei Jahren starb Onkel Tano.
»Wohin gehst du denn jetzt, wo Onkel Tano doch, Gott hab ihn selig, nicht mehr unter uns weilt?«
Jemine, was für ein Theater! Minicuzzu, der gerne die halbe Wahrheit sagte, schrieb:
»Ich gehe in die Pension Eva.«
Was wusste Luisina schon von der Pension? Es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, dass es sich um ein Bordell handelte. Und wusste Luisina überhaupt, was ein Bordell war?
»Ach ja? Und was tust du da?«, fragte sie. Offenbar hatte sie wirklich keine Ahnung.
»Dort ist samstags ein sehr guter Arzt, der mich vielleicht vom Stottern heilt«, schrieb Minicuzzo.
Als Luisina an einem Freitag in der Sakristei ihr tägliches Gespräch mit dem Pfarrer hatte, erzählte sie ihm, dass ihr Mann jetzt regelmäßig zum Arzt gehe.
»Das ist ja großartig. Wer behandelt ihn denn?«
»Ein Arzt, der in der Pension Eva wohnt.«
»Wo wohnt er?!«
»In der Pension Eva, hat Minicuzzo gesagt.«
Der Pfarrer war entsetzt. Er schrie und beschimpfte Minicuzzo als würdelos.
»Aber wieso denn?«
Da erklärte ihr der Pfarrer, was die Pension Eva war, was sich dort für Weibsbilder herumtrieben und was die Männer dort machten. Luisina tat erst mal überhaupt nichts; sie weinte nicht, sie schrie nicht. Sie ging nach Hause, bereitete das Essen wie gewöhnlich zu und ging dann schlafen. Als Minicuzzo am Abend darauf gegen halb neun das Haus verlassen wollte, vergewisserte sich Luisina:
»Gehst du zur Pension?«
»Ja.«
Am nächsten Morgen fragte sie das Dienstmädchen, wo die Pension sich befand. Sie zog sich an und steckte sich ein zwei Kilo schweres Gewicht von der Schnellwaage in die Handtasche. Ohne Eile verließ sie das Haus und ging zur Pension. Resolut trat sie ein. Schon im Vestibül traf sie auf ihren Mann, der gerade mit zufriedenem Gesicht aus dem Salon kam. Kaum hatte Minicuzzo sie erblickt, versteinerte seine Miene. Mit unbewegtem Gesichtsausdruck hob Luisina ihre Handtasche, ließ sie kurz in der Luft kreisen und schleuderte sie Minicuzzo gegen den Kopf. Dann machte sie, ohne ein Wort zu sagen, auf dem Absatz kehrt und verließ die Pension. Minicuzzo hielt sich den Kopf, aus dem das Blut herausschoss, wankte in den Salon zurück und schrie:
»Den Kopf hat sie mir zertrümmert! Hilfe! So helft mir doch, um Himmels willen! Meine Frau hat mir den Kopf zertrümmert!«
Danach verstummte er plötzlich. Er erstarrte: Er hatte kein einziges Mal gestottert! Die erfundenen Arztbesuche hatten die gewünschte Heilung gebracht, wenngleich auf andere Weise als erwartet. Und von diesem
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