Die Pest zu London
1664, im Herbst, treten in London zwei Pestfälle auf, die zunächst ignoriert werden. Weitere Fälle im Frühjahr 1665 werden verschwiegen, als Todesfälle durch Fleckfieber dargestellt und bagatellisiert, die örtliche Beschränkung auf ein bis zwei Pfarrsprengel wird als »Beruhigungspille«
für die Bevölkerung gewertet. Wen erinnert das nicht an das Verhalten von Behörden bei Vorfällen aus jüngster Zeit? Doch funktioniert dieses System nicht lange, bald kann die Ausweitung der Krankheit zu einer Epidemie nicht mehr verheimlicht werden. Entsetzen greift um sich, Massenflucht und Arbeitslosigkeit setzen ein, aus einer friedlichen Idylle wird ein Hexenkessel mit allen Erscheinungen der Massenhysterie.
Defoes Schilderung galt lange als Augenzeugenbericht, in der medizinischen Forschung sogar als Quelle für diese Epidemie. Der Autor war 1665 jedoch ein Kind von vier oder fünf Jahren. Sein »Journal of the Plague Year« erschien 1722, als man eine neue Epidemie befürchtete.
Tiefe Betroffenheit über die Ereignisse von 1665 spricht aus seinem Bericht. Der Druck des Unheimlichen, Heimtückischen, Unbegreifli-chen, das er als Kind erlebt und erkannt hatte, hat ihn wohl sein ganzes Leben nicht verlassen, zu tief war sein Blick in die Massengräber, die Leichengruben gewesen. Er versetzt sich in die Rolle eines erwachsenen und urteilsfähigen Mannes in reiferen Jahren, der mit Gottvertrauen hofft, die Seuche zu überstehen, Schrecken und Furcht durchlebt, aber dessen Neugier ungebrochen bleibt und den Blick offen hält für alle Stimmungen, Meinungen und auch Auswüchse seiner Leidensgenossen.
Überaus anschaulich beschreibt er den Pestsommer, bleibt immer sachlich und erhöht damit den Eindruck der Glaubwürdigkeit.
»Die Pest zu London« hat neben dem »Robinson Crusoe« und der
»Moll Flanders« Defoes Weltruhm als Begründer der Kunstform des realistischen Romans gefestigt. So sehr sich in den mehr als zweieinhalb Jahrhunderten die Zeitumstände geändert haben, die menschlichen Verhaltensweisen sind gleich geblieben. Die zeitkritische Realistik Defoes hat nichts an Wahrheitsgehalt eingebüßt.
Daniel Defoe
Die Pest zu London
Non-profit ebook by tigger
September 2003
Kein Verkauf!
nymphenburger
Titel der Originalausgabe: A Journal of the Plague Year.
Aus dem Englischen übertragen von Werner Barzel Die Übernahme der Übersetzung von Werner Barzel wurde freundlicherweise von der Fischer Bücherei KG, Frankfurt, gestattet.
© 1987 Nymphenburger Verlagshandlung GmbH, München Alle Rechte, auch der photomechanischen Vervielfältigung und des auszugsweisen Abdruckes, vorbehalten
Schutzumschlag: Cooperation, München
Satz: Filmsatz SchröterGmbH, München
Druck und Binden: Wiener Verlag, Himberg bei Wien Printed in Austria 1987
ISBN 3-485-00540-1
E s war gegen Ende September 1664, als ich mit meinen Nachbarn zusammenstand und, recht beiläufig, erwähnen hörte, daß die Pest in Holland wieder ausgebrochen sei; sie hatte dort nämlich im Jahre 1663 sehr gewütet, besonders in Amsterdam und Rotterdam, wohin sie, heißt es, von Italien oder auch aus der Levante mit irgendwelchen Waren, die die Türkenflotte geladen hatte, eingeschleppt worden war; manche meinten auch, sie sei von Kreta, wieder andere, von Zypern hergebracht worden. Was verschlug es, wo sie herkam! Alle waren sich jedenfalls einig, daß sie in Holland wieder herrschte.
Nun gab es in jenen Tagen keine gedruckten Zeitungen, um Gerüchte und Neuigkeiten zu verbreiten und sie mit Selbster-fundenem auszuschmücken, wie ich es später noch habe erleben müssen. Sondern solche Nachrichten wie diese stammten aus den Briefen von Kaufleuten und anderen, die mit dem Ausland Beziehungen unterhielten, und von da sprach es sich lediglich von Mund zu Mund herum; auf diese Weise verbreitete sich eine Kunde nicht augenblicks im ganzen Lande, wie sie es heute tut. Es scheint jedoch, daß die Regierung einen zuverlässigen Bericht besaß, und man beriet in mehreren Ratssitzungen, wie einem Übergreifen der Seuche zu begegnen sei; aber all das geschah sehr verschwiegen. So kam es, daß das Gerücht wieder erstarb und die Leute es schon zu vergessen begannen, so wie etwas, das uns weiter nicht betraf und von dem wir hoffen konnten, es sei gar nicht wahr, bis dann im späten November oder Anfang Dezember 1664 zwei Männer, dem Vernehmen nach Franzosen, im Long Acre, oder richtiger am oberen Ende von Drury Lane, an der Pest starben.
Die Familie,
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