Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 17 Madoka
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Japan, 1996
Madoka Andô war fünfzehn Jahre alt, als es geschah.
Zu dieser Zeit verbrachte sie praktisch jeden Abend zu Hause mit Lesen. Wenn sie auf dem Heimweg vom Jûdô-Unterricht in einem Buchladen vorbeiging und zwei, drei dünne Bände erwarb, hatte sie diese durch, ehe sie sich schlafen legte. Sie war eine konzentrierte und schnelle Leserin, und es gab niemandem im Haus, der sie störte. Die Putzfrau verrichtete ihre Arbeit vormittags – das Mädchen sah sie nur alle paar Wochen mal, wenn es krank war oder die Schule schwänzte.
Ab und zu kamen im Laufe des Nachmittags oder Abends Anrufe für Madokas Vater. Dann rutschte sie von ihrem Lieblingsplatz, dem breiten, harten Bett herunter, schlurfte mit dem Buch in der Hand ins menschenleere Wohnzimmer und nahm die Anrufe entgegen, ohne ihre Lektüre zu unterbrechen. Die wenigsten hatten ein Interesse daran, lange Gespräche mit ihr zu führen. Sie hatten belanglose Dinge auf dem Herzen, die sie ihrem Vater ausrichten sollte. Stets hinterließ sie Notizen auf dem Din A 4-Block, der neben dem Apparat lag. Sie tat es ohne hinzusehen, und wenn sie das Memo zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal las, konnte sie sich nicht daran erinnern, es geschrieben zu haben.
Madoka war schon immer in der Lage gewesen, drei oder vier Dinge gleichzeitig zu tun. Natürlich blieb nur eines davon in ihrem Gedächtnis, doch diese Erinnerung war kaum mehr auszulöschen.
Vater war ein beschäftigter Mensch. Manchmal kam er zwischen 21 und 22 Uhr kurz vorbei, um eine Kleinigkeit zu essen und sich für einen Abendempfang, eine Party oder ein persönliches Gespräch umzuziehen. Viel öfter traf er irgendwann gegen Mitternacht ein, trank im Wohnzimmer einen kleinen Whisky on the rocks und ging dann in sein Arbeitszimmer. Wann er sich von seinem Schreibtisch verabschiedete und schlafen ging, wusste seine Tochter nicht. Nur selten verbrachte Dr. Fumio Andô den Abend zu Hause, und dies waren die Abende, die Madoka hasste. Sie hasste sie nicht, weil sie etwas gegen die Gesellschaft ihres Vaters hatte – im Gegenteil, sie hätte sich gewünscht, öfters mit ihm essen und reden zu können. Sie hasste die Tage, an denen er früh kam, weil er an diesen Abenden nicht allein blieb. Kaum war er zu Hause, klingelte es an der Haustür, und ein blutjunges Mädchen in einer Schuluniform stand davor.
Jedes Mal war es ein anderes, doch die Uniformen und der Typ unterschieden sich nur unwesentlich. Vater liebte Schulmädchen. Hübsche, schlanke Lolitas mussten es sein, die den Hauch von Unschuld und Jungfräulichkeit an sich hatten. Seit er von Mutter getrennt lebte, hatte er, soweit Madoka wusste, nichts mehr mit einer Frau über Fünfundzwanzig gehabt.
An jenem Nachmittag hatte Madoka zwei Romane des deutschen Autors Hermann Hesse aufgetrieben. Hesse war in Japan sehr beliebt, die meisten seiner Texte übersetzt, und sie selbst hatte schon in ihrer Kindheit seine wichtigsten Werke wie den „Steppenwolf“ und „Unter dem Rad“ verschlungen. Diesmal war es ihr gelungen, eine zweisprachige Version beider Bücher zu ergattern – auf den rechten Buchseiten stand der deutsche Text, auf den linken die japanische Übersetzung. Seit ihrem zwölften Lebensjahr lernte Madoka Deutsch, ihre dritte Fremdsprache nach Englisch und Chinesisch.
Es war halb neun, als der volle Schlag der Türglocke erklang. Er hätte einer kleineren christlichen Kapelle zur Ehre gereicht. Natürlich hatte Vater einen Schlüssel, und wenn es klingelte, ehe er nach Hause kam, konnte es eigentlich nur ein Hausierer oder ein Angehöriger einer der vielen religiösen Sekten sein, die auf Schäfchenfang waren. In diesen Momenten wünschte sich Madoka, ihr Bruder würde noch zu Hause wohnen und die ungebetenen Besucher abwimmeln. Ein Mädchen wurde einfach nicht ernst genommen, auch wenn es sich so unfreundlich gab, wie Madoka das zu tun pflegte. Aber ihr Bruder fühlte sich in ihrer Nähe nicht wohl. Deshalb wohnte er alleine irgendwo in Tôkyô.
Madoka war nicht die Sorte Mensch, die ein Läuten einfach ignorierte. Wenn man die falschen Leute abwies, zog das Schwierigkeiten nach sich, und Schwierigkeiten waren lästig. Sie führten zu Verwicklungen und kosteten Zeit, die man besser mit Lernen und Lesen verbrachte. Von ihrem Vater hatte sie gelernt, dass man Zeit sparte, indem man alles vermied, was nicht sofort oder innerhalb eines festen Zeitplans erledigt werden konnte.
Auch als sie zur Tür ging, hielt sie ihre Lektüre
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