Die Philosophin
russische Armee am Fuße der Klostermauern. Doch was bedeutete diese Bedrohung im Angesicht der Ewigkeit? Der heilige Berg hatteschon viele Angriffe überstanden, und nicht sein festes Mauerwerk, sondern die Heilige Jungfrau Maria hatte ihn immer wieder beschützt, die einzige und wahre Königin der Christenheit. Mit ihrer Hilfe würde er ein weiteres Mal widerstehen.
Es klopfte an der Tür.
»Dominus vobiscum!«
»Et cum spiritu tuo!«
Ein junger Frater, der Kustos des Klosters, betrat die Zelle. Er brachte ein großes, schweres Paket. Als Radominsky es sah, war es um seine Andacht geschehen.
»Aus Paris?«
»Ja, Ehrwürdiger Vater.«
»Sehr gut, leg es auf den Tisch!«
Während der Kustos die Zelle verließ, erhob Radominsky sich von den Knien. Mit gichtigen Fingern schnürte er das Paket auf. Er konnte es kaum erwarten, den Inhalt in Händen zu halten.
»Komm, Heiliger Geist«, flüsterte er, während er den Knoten löste, »sende vom Himmel die Strahlen deines Lichts …«
Ungeduldig riss er das Papier auf. Es war ein Buch, eingebunden in feinstes Maroquin: der elfte und letzte Tafelband der Enzyklopädie. Band für Band des großen Werks hatte er bekommen, Sartine hatte ihm einen nach dem anderen hierher geschickt, all die Jahre hindurch, seit Radominsky Paris verlassen hatte. Die Enzyklopädie war außer der
Summa theologica
des Thomas von Aquin seine einzige Lektüre in dieser heiligen Abgeschiedenheit.
»Vollkommener Tröster, süßer Gast der Seele, süße Kühle …«
Nun war das Werk also vollbracht … Radominsky nickte.Diderot, sein ewiger Widersacher, hatte es unverdrossen fortgeführt, trotz der zahllosen Anfeindungen und Widrigkeiten, denen er ausgesetzt gewesen war, hatte auf persönlichen Ruhm verzichtet, nichts anderes mehr in Druck gegeben, kein Drama, keinen Roman, kein Traktat, um sein ganzes Leben dieser einen großen Aufgabe zu weihen. Ja, Radominsky hatte es immer gewusst, seit er diesem Mann zum ersten und einzigen Mal begegnet war, im Kerker von Vincennes: Sie waren beide vom selben Stamm, auch wenn sie einander ein Leben lang bekriegt hatten.
»Du bist wie eine Erfrischung in der Hitze, wie Trost in den Tränen …«
Radominsky schlug das schwere Buch auf: »Gedruckt bei André-François Le Bréton, Erster ordentlicher Buchdrucker des Königs, Paris, Rue de la Harpe, 1772.« Aufmerksam betrachtete er das Frontispiz. Was hatte er nicht alles getan, um dieses Werk zu verhindern? Er hatte seine ganze Macht eingesetzt, all seine Geistesgaben und alle Kraft, die der Herr ihm verliehen hatte, um seinem Entstehen Einhalt zu gebieten. Keine Mühe war ihm zu groß gewesen, keine Gefahr zu bedrohlich – er hatte sogar gesündigt, den Gründer seines Ordens verleugnet, sein Seelenheil gewagt, um der gerechten Sache zu dienen. Gott aber hatte anders entschieden. Warum? »O bestes Licht, fülle die Herzen deiner Gläubigen …«
Radominsky wiegte den Kopf. War sein Kampf am Hochmut gescheitert, an der Superbia, an der Sünde wider den Heiligen Geist, nicht anders als der Kampf seiner jesuitischen Glaubensbrüder? Obwohl er ahnte, dass die Demut vielleicht die einzige Tugend war, die keinen Einlass in sein Herz gefunden hatte, und er darum fürchten musste, dass der Fluch des heiligen Francesco di Borgia sich auch an ihm erfüllte – Radominskyglaubte nicht, dass dies die wahre Ursache seiner Niederlage war. Ein Verdacht nistete in seinem Busen, schon seit Jahren, wie eine schwarze böse Schlange, die ihr Gift in seiner Seele verspritzte, das Gift des Zweifels. Ja, Pater Radominsky zweifelte – an Gott und an sich selbst. Wenn es Gottes Wille war, dass es dieses Buch gab, wenn der Allmächtige das riesige Schiff der Enzyklopädie durch all die Stürme der Zeiten fast unbeschadet in den sicheren Hafen geleitet hatte, wenn nun Tausende und Abertausende von Menschen die Lehre der Philosophen zu lesen bekamen, die neue Ordnung der Dinge, die auf Metaphysik und Theologie verzichtete, um alles Geschehen auf Erden, von ihren Anfängen bis zu ihrer Vollendung, allein aus der Vernunft und der Erfahrung abzuleiten – dann, ja dann hatte er, der Jesuit Radominsky, die Zeichen missverstanden, Ursache und Wirkung von Gottes Willen und menschlichem Handeln verwechselt, weil nicht die Menschen, sondern Gott selbst in Seiner Unerforschlichkeit dieses Buch gewollt und gezeugt hatte, diesen Triumph der Erkenntnis über die Offenbarung.
»Ohne dich wären wir Menschen bedeutungslos und leer, nichts
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