Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
zusammengebrochen wäre, und bugsierten ihre Lasten dennoch so geschmeidig und geschickt über Treppen und durch Türen, als würden sie Daunenkissen tragen.
    Sophie stand im Wohnzimmer ihres leer geräumten Hauses und sah sich noch einmal um. Es waren die letzten Minuten, in einer halben Stunde würde die Postkutsche kommen. Zwei Jahre hatte sie hier gelebt, so viel Zeit war seit dem Tod der Marquise de Pompadour schon wieder vergangen.
    War es eine gute Zeit gewesen?
    Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken – ihr Entschluss stand fest. Sie wollte Paris für immer verlassen. Diderot hatte Le Bréton angezeigt, der Herausgeber seinen Verleger, als wolle er sein Werk vernichten – und sie trug die Schuld an diesem Wahnsinn … Nein, es hatte keinen Sinn, noch länger hier zu bleiben. Sie würde in ihre Heimat zurückkehren, nach Beaulieu, um sich endlich ihrer Vergangenheit zu stellen, nach über fünfundzwanzig Jahren.
    Bei dem Gedanken klopfte ihr das Herz, und sie fasste an ihre Brust, um das Amulett in ihrer Hand zu spüren. Zum erstenMal seit langer Zeit trug sie wieder diese Kette – das einzige Andenken, das sie mit ihrer Heimat verband.
    Hätte sie ihr Dorf überhaupt verlassen dürfen, ohne die Wahrheit zu wissen? Vielleicht war es ein Fehler gewesen, nach Paris zu gehen, vielleicht war ihr ganzes Leben nur eine Flucht vor dem Dunkel ihrer Vergangenheit.
    Auf dem Fensterbrett lag ein Buch. Sophie hatte es am Abend selbst dorthin gelegt, um es als letztes vor der langen Reise einzupacken. Es war in rote Seide gebunden, der Deckel war in der Mitte vom häufigen Gebrauch so durchscheinend wie japanisches Papier: die Abenteuer des großen Sultans Mongagul und seiner Prinzessin Mirzoza …
    Es war nur eine einzige kurze Passage, die sie noch einmal lesen wollte, kaum mehr als zwei Dutzend Wörter, und doch bedeuteten sie ihr Leben. Sophie zögerte, konnte sich lange nicht entschließen, denn sie wusste, die wenigen Worte würden ihr Innerstes anrühren. Doch dann nahm sie ihren Mut zusammen und schlug das Buch auf. Es gehörte mit zu ihrem Abschied von der großen Stadt.
    »Die zärtliche Frau ist diejenige, die ihre Liebe verschenkt, ohne dass ihr Kleinod je spricht, oder deren Kleinod stets nur zu Gunsten des einen Mannes sich regt, dem ihre ganze Liebe gilt …«
    Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe, Wort für Wort las Sophie die unscheinbaren Zeilen, als gelte es, die Hieroglyphe ihres Schicksals zu enträtseln. Was wäre passiert, wenn sie diesen einen Satz zur rechten Zeit gelesen hätte? Diderot hatte ihn nur für sie geschrieben, fast gegen seinen Willen, das hatte er ihr einst gestanden, und doch hatte er ihre ganze Wahrheit darin eingeschlossen, die Wahrheit ihrer Liebe.
    Müde schloss sie die Augen: Warum war alles so gekommen, wie es nun gekommen war? Ach, sie wusste es ja nur selbst allzu gut: Weil sie nicht den Mut gehabt hatte, an ihre Liebe zu glauben, nicht den Mut, mit Diderot ihr Glück zu wagen, nicht den Mut, in das wunderbare Paradies einzutreten, das offen und frei vor ihr gelegen hatte. Aus Angst, so zu werden wie ihre Mutter, aus Angst, so zu enden wie sie. Jetzt war ihr Kleinod für immer verstummt. Denn sie würde den Mann, für den es sich regte, niemals wieder sehen.
    Eilige Schritte weckten sie aus ihren Gedanken.
    »Was trödelst du noch, Mama?«, sagte Dorval, dessen Stimme seit ein paar Monaten so tief wie die eines Mannes klang. »Wir müssen uns beeilen. Die Kutsche ist gleich da.«
    »Du hast Recht«, sagte sie und legte das Buch in eine Truhe, die zum Transport bereitstand. »Aber was schleppst du da für eine schwere Kiste? Sollen die nicht besser die Männer tragen?«
    »Nein, nein. Die darf nicht auf das Fuhrwerk. Die nehme ich mit in die Kutsche.«
    »Warum denn das?« Sie schaute ihn an. »Sag mal, was hast du darin versteckt?«
    Dorval wurde rot, und die kindliche Verlegenheit passte so wenig zu seiner männlichen Stimme wie zu dem dunklen Flaum auf seiner Oberlippe. »Nichts Schlimmes, Mama, nur mein Lieblingsbuch.«
    »Die Enzyklopädie?«
    »Ja, die Textbände. Ich hab Angst, dass sie unterwegs verloren gehen. Stell dir vor, der Karren kippt um und die Bücher landen im Graben? Oder es gibt einen Überfall, und sie werden geraubt?«
    »So viel sind sie dir wert?« Sophie musste lächeln. »Also gut,von mir aus kannst du sie mit in die Kutsche nehmen. Aber heb dir nur keinen Bruch!«
    Wie ein Soldat bewachte Dorval seine Kiste in dem leeren Raum, als

Weitere Kostenlose Bücher