Die Philosophin
wäre harmlos …«
Radominsky befeuchtete mit der Zunge eine Fingerspitze und begann, in dem Tafelband zu blättern. Überwältigt von ihrer Pracht betrachtete er die Bilder. Es war, als trete ihm darin die ganze Schöpfung Gottes entgegen, in all ihrer Herrlichkeit und Größe. Er sah Wüsten und Meere, Tiere und Pflanzen, Menschen und ihre Werke. Er sah, wie sich die Nachkommen Adams aus dem Staub erhoben, wie sie ihre Felder bestellten und die Ernte einfuhren, wie sie sich Werkzeuge schufen, Räder und Pflüge und Sensen, wie sie Häuser bauten und Städte, Kirchen und Paläste, wie sie die Leibervon Tieren und Menschen öffneten, Apparate und Maschinen erfanden, mit Teleskopen die Unendlichkeit erforschten und mit Mikroskopen winzig kleine Lebewesen, die kein Auge ohne Hilfe zu sehen vermochte, wie sie die Elemente des Lebens spalteten und aufs Neue zusammenfügten, in ihrem ewigen Streben, sich die Erde untertan zu machen. Die Illustrationen waren von solcher Vollkommenheit, dass man darüber vergessen konnte, doch nur Abbilder der wahren Wirklichkeit vor sich zu haben.
»Reinige das Schmutzige, wässere das Ausgetrocknete, heile das Verletzte …«
Nur mit Mühe brachte Radominsky es über sich, seinen Blick von dem Buch zu lösen, das die Schöpfung auf ebenso großartige wie obszöne Weise duplizierte. Dann schloss er den Folianten. Doch seine Gedanken fanden keine Ruhe. Was war das Geheimnis, das sich hinter diesem Werk verbarg, der wirkliche und wahrhaftige Grund, warum der allmächtige Gott es gewollt hatte, im großen Plan der Vorsehung? Mit einem Seufzer strich Radominsky über das Leder des Einbands, langsam und zärtlich, wie ein Liebhaber eine schöne Frau ein letztes Mal liebkost, die ihm ihr Geheimnis verweigert.
»Weiche das Verhärtete auf, erwärme das Erkaltete, leite das Verirrte …«
Radominsky schaute zum offenen Fenster hinaus. Der Anblick tat seiner Seele wohl. Wie schön und herrlich hatte Gott die Welt erschaffen! Das Grummeln der Geschütze war verstummt, als habe der Krieg sich dem Frieden der Abendsonne ergeben, die das Land in ihr goldenes Licht tauchte wie in das Licht der ewigen Gnade. Die reifen Felder wogten sanft im Wind, die Luft war erfüllt vom Gesumm unzähligerLebewesen, die noch einmal ihre Stimmen erhoben, bevor sie in den großen Schlaf der Nacht versanken. Plötzlich überkam Radominsky jenes Gefühl der Demut, das ihm in den langen Jahren seiner Gottesdienerschaft stets fremd geblieben war, und es war, als würden sich seine Sinne öffnen, für einen kurzen Augenblick, um die Botschaft zu empfangen. Alles, was auf Erden verging, starb im Dienst des Lebens, ging ein in den Fortgang der Schöpfung, die sich in diesem Kreislauf wieder und wieder erneuerte, um ihrer eigenen Vervollkommnung entgegenzustreben.
»Gib Deinen Gläubigen, die auf Dich vertrauen, die heilige siebenfache Gabe …«
Der Gedanke traf Radominsky mit solcher Wucht, dass er mit den Zähnen knirschte. War dies das Geheimnis, das sich hinter der Enzyklopädie verbarg, der Grund, warum ihn dieses Buch von Anfang an in seinen Bann geschlagen hatte wie die sündige Schönheit eines nackten Frauenleibes? Auch wenn die Erkenntnis ihn schmerzte wie ein dorniger Stachel im Fleisch, auch wenn sein Innerstes dagegen revoltierte wie der Heiland im Garten Gethsemane gegen den Willen des göttlichen Vaters, in der verzweifelten Hoffnung, dass dieser Kelch an ihm vorübergehe, verstand er die Botschaft des Herrn. Er, Radominsky, Soldat der Gesellschaft Jesu, hatte die Enzyklopädie nicht verhindern können, weil sich das Streben der Menschen nach Wissen und Wahrheit nicht unterdrücken ließ; das Wachstum des Geistes war in der Schöpfung ebenso angelegt und vorgesehen wie das Wachstum der Körper, der Pflanzen und Tiere und Menschen – in jedem Lebewesen, das Gott erschaffen hatte.
»Gib die verdiente Belohnung für unser Bemühen, gib ein gesundes Ende, gib ewige Freuden!«
Radominsky nahm das Buch und stand auf. War sein Leben vergeblich gewesen? Die Frage lastete wie Blei auf seinen Schultern, kaum war er fähig, die wenigen Schritte bis zum Regal zu tun, während in der Ferne ein letztes vereinzeltes Geschütz donnerte. Der Pater registrierte es mit bitterer Genugtuung. Nein, der Kampf war noch nicht verloren. Woran er teilgenommen hatte, war nur eine Schlacht gewesen, der Krieg aber ging weiter, solange Menschen auf Erden wandelten. Das ewige Ringen zwischen Gut und Böse – es würde erst am Tag
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