Die Philosophin
Sophie wenig später das Haus verließ, um noch einmal hinunter zum Fluss zu gehen, bevor sie in die Postkutsche stieg.
Das tiefe, gleichmäßige Rauschen der Seine empfing sie am Ufer wie eine Umarmung. Es war, als würde die Zeit selbst durch sie hindurchströmen. Ja, sie würde den Fluss vermissen, dachte Sophie, während sie in die grünen Fluten schaute, den Fluss und all die Erinnerungen, die sie mit ihm verband … Wie hell und klar und sauber das Wasser hier war, an manchen Stellen konnte man bis auf den Grund sehen, und es roch so frisch und würzig, dass man kaum glauben konnte, wie viel Treibgut aus der großen Stadt die Fluten mit sich führten, all die Unmengen von Abfall und Gerümpel, die sich in den Netzen von Saint-Cloud verfingen, das ganze kunterbunte Zufallsdurcheinander des Lebens …
Plötzlich hatte Sophie das Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Unwillkürlich drehte sie sich um.
27
»Du?«
Vor ihr stand Diderot. Mit seinen hellen blauen Augen schaute er sie an, ein unsicheres Lächeln um seine Lippen.
»Die Lastenträger haben mir gesagt, dass ich dich hier finde«, sagte er.
»Hast du mich denn gesucht?«
Er nickte. »Warum willst du fort?«
Sie dachte einen Moment nach, bevor sie eine Antwort gab. »Ich glaube, ich gehöre einfach nicht hierher. Solange ich hier war, habe ich einen Fehler nach dem anderen gemacht. Ich bin immer weiter in eine Richtung gegangen, in die ich gar nicht gehen wollte, und obwohl ich es spürte, konnte ich nicht damit aufhören, wie in einem Labyrinth. Und wenn ich ab und zu versucht habe, etwas richtig zu machen, wurde alles nur noch schlimmer.« Sie machte eine Pause. »Darum gehe ich jetzt. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät.«
Diderot schüttelte den Kopf. »Du hast nichts falsch gemacht, Sophie. Ich gebe zu, ich habe dich verflucht, gehasst, verachtet, als ich erfuhr, was du getan hast, aber …«
»Dann weißt du also Bescheid?«, fragte sie erschrocken. »Dass ich es war, und nicht Le Bréton?«
»Sartine hat es mir gesagt.«
»Aber wenn du es gewusst hast, weshalb um Himmels willen hast du ihn dann angezeigt?«
»Ich? Le Bréton? Angezeigt?« Diderot schüttelte den Kopf. »Das traust du mir zu?«
Sophie senkte beschämt den Blick. »Trotzdem«, sagte sie nach einer Weile, »was ich dir angetan habe, war ein fürchterlicher Fehler, mein größter von allen. Aber glaub mir, ich dachte, ich könnte dir auf diese Weise helfen …«
»Pssst«, machte er und legte ihr einen Finger auf die Lippen.
»Willst du mir schon wieder den Mund verbieten?«
Die Geste machte sie für eine Sekunde wütend, doch dann sah sie ihn an. Sein kleiner Kopf mit dem angegrauten Schopf ruckte auf den breiten Schultern wie ein Wetterhahn aufeinem Kirchturm, und über seiner Oberlippe war eine Spur von Schaum, wie ein feiner Schnauzbart.
»Du brauchst mir nichts zu erklären«, sagte er. »Ich weiß doch, warum du es getan hast. Eine Kellnerin im ›Procope‹ hat es mir soeben erklärt.«
»Eine Kellnerin im ›Procope‹?«
»Glaubst du, du bist das einzige kluge Mädchen, das jemals dort serviert hat?«, fragte er mit einem Grinsen. Dann wurde er wieder ernst. »Es war nur eine Kleinigkeit, und sie hat sich überhaupt nichts dabei gedacht. Aber genau das hat mir die Augen geöffnet. Ich hatte eine Schokolade bestellt, und als sie mir die Tasse brachte, hat sie mir die Vorzüge angepriesen, mit meinen eigenen Worten aus der Enzyklopädie. Kannst du dir vorstellen, was das für mich bedeutet?«
Sophie hielt den Atem an, während Diderot weitersprach.
»Sie stand vor mir, genau wie du damals, und ihre Augen leuchteten vor Begeisterung über ihr Wissen, obwohl es doch nur um eine Tasse Schokolade ging. Da habe ich plötzlich begriffen, dass alles, was wir tun, um gegen das Elend und die Dummheit und die Not anzukämpfen, und sei es noch so unvollkommen, doch besser ist, als gar nichts zu tun.«
Sophie musste schlucken. »Dann hast du also«, flüsterte sie, »wirklich verstanden, warum ich …«
»Ja«, sagte er. »Du hast mich nicht verraten, weder mich noch die Enzyklopädie. Im Gegenteil, du hast dafür gesorgt, dass sie weiter existiert, und ich würde selbst zum Verräter, wenn ich jetzt aufgäbe.« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Fahr nicht fort, bitte! Ich brauche dich. Damit wir gemeinsam zu Ende bringen, was wir angefangen haben.«
»Wie … wie stellst du dir das vor?«, stammelte sie, vollkommen durcheinander. »Alles, was ich
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