Die Physiker
Handlung
den Zufall möglichst wirksam einzusetzen.
6
Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen.
7
Der Zufall in einer dramatischen Handlung besteht darin,
wann und wo wer zufällig wem begegnet.
8
Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer
vermag sie der Zufall zu treffen.
[92] 9
Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel
erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das
Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchteten, was sie zu
vermeiden suchten (z. B. Ödipus).
10
Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd
(sinnwidrig).
11
Sie ist paradox.
12
Ebensowenig wie die Logiker können die Dramatiker das
Paradoxe vermeiden.
13
Ebensowenig wie die Logiker können die Physiker das
Paradoxe vermeiden.
14
Ein Drama über die Physiker muß paradox sein.
15
Es kann nicht den Inhalt der Physik zum Ziele haben,
sondern nur ihre Auswirkung.
16
Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung
alle Menschen.
17
Was alle angeht, können nur alle lösen.
[93] 18
Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle
angeht, muß scheitern.
19
Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.
20
Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der
Wirklichkeit aus.
21
Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der
Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu
bewältigen.
Geschrieben für den Sammelband Komödien 11
und Frühe Stücke, Verlag der Arche, Zürich 1962.
[94] Nachweis
Die Sekundärliteratur wie auch Dürrenmatt selbst
übermitteln oft widersprüchliche Angaben zu den einzelnen Texten; der
nachfolgende Nachweis zur Publikations- und Aufführungsgeschichte sowie zur
Textgrundlage stützt sich auf die Dokumente aus Dürrenmatts Nachlaß und Archiv
im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.
Der Stoff der Physiker fällt
Dürrenmatt gleichzeitig wie der des Meteor bei einem
Kuraufenthalt im Sommer (August/September) 1959 in Vulpera im Unterengadin ein,
mit der Niederschrift beginnt er eineinhalb Jahre später, im Januar 1961. Am
21. Februar 1962 findet unter der Regie von Kurt Horwitz im Schauspielhaus
Zürich die Uraufführung statt, mit Hans Christian Blech als Möbius, Gustav
Knuth als Newton, Theo Lingen als Einstein, Hanne Hiob als Schwester Monika und
Fred Tanner als Voß; die Rolle der Irrenärztin Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd
übernimmt Therese Giehse, die Dürrenmatt auf die Idee brachte, den Irrenarzt
der ersten Manuskriptfassung in eine Frau zu verwandeln. Das Stück erscheint im
gleichen Jahr in überarbeiteter Form mit dem Untertitel ›Eine Komödie in zwei
Akten‹ im Verlag der Arche, Zürich, ab dem 16. Tausend mit der Widmung an
Therese Giehse, ab dem 25. Tausend mit einer kleinen Änderung in der
Schlußszene. Nach der deutschen Erstaufführung am 21. September 1962 an den
Kammerspielen, München (Regie Hans Schweikart), folgen Inszenierungen im ganzen
deutschen Sprachraum – 1962/63 sind Die Physiker das
meistgespielte Stück auf deutschen Bühnen (über 50 Bühnen) –, danach
Erstaufführungen in der ganzen Welt, von Belgrad bis Lima, von Johannesburg bis
Mexico-City, u. a. am 9. Januar 1963 am Aldwych Theatre, London, und am 13.
Oktober 1964 am Martin Beck Theater, New York (beide in der Regie von [95] Peter
Brook). Im selben Jahr wird das Stück für die ARD (Co-Produzent Süddeutscher Rundfunk) als Fernsehspiel bearbeitet und am 5.
November 1964 in der Regie von Fritz Umgelter (mit Therese Giehse als Mathilde
von Zahnd, Kurt Ehrhardt als Einstein, Wolfgang Kieling als Möbius, Gustav
Knuth als Newton, Renate Schroeter als Monika und Siegfried Lowitz als Voß)
erstausgestrahlt. Am 8. Januar 1973 findet in Reinach (Kanton Aargau) die
Premiere der Inszenierung Dürrenmatts mit dem ›Schweizer-Tournee-Theater‹ (mit
Charles Regnier, Walter Fein, Ruth Hellberg, Dinah Hinz, Georges Weiss in den
Hauptrollen) statt. Für die für die Werkausgabe 1980 geschriebene ›Neufassung
1980‹ (die keine grundsätzlichen Änderungen am Text bringt) stützt sich
Dürrenmatt auf diese praktische Theaterarbeit ab. Vor allem zu Beginn der
achtziger und auch in den neunziger Jahren zählt Die
Physiker erneut zu den meistgespielten Bühnenstücken des deutschen
Sprachraums.
Das Manuskript der 21 Punkte zu den › Physikern‹,
reproduziert im Programmheft der Uraufführung, ist mit 13. Februar 1962
datiert.
Foto: © Edouard
Weitere Kostenlose Bücher