Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Physiker

Die Physiker

Titel: Die Physiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
Ohne Hoffnung gibt es nun einmal keine politische Haltung.
    MÖBIUS   Sind wenigstens Ihre
Physiker frei?
    EINSTEIN   Da auch sie für die
Landesverteidigung –
    MÖBIUS   Merkwürdig. Jeder preist
mir eine andere Theorie an, doch die Realität, die man mir bietet, ist
dieselbe: ein Gefängnis. Da ziehe ich mein Irrenhaus vor. Es gibt mir
wenigstens die Sicherheit, von Politikern nicht ausgenützt zu werden.
    EINSTEIN   Gewisse Risiken muß man
schließlich eingehen.
    MÖBIUS   Es gibt Risiken, die man
nie eingehen darf: der Untergang der Menschheit ist ein solches. Was die Welt
mit den Waffen anrichtet, die sie schon besitzt, wissen wir, was sie mit jenen
anrichten würde, die ich ermögliche, können wir uns denken. Dieser Einsicht
habe ich mein Handeln untergeordnet. Ich war arm. Ich besaß eine Frau und drei
Kinder. An der Universität winkte Ruhm, in der Industrie Geld. Beide Wege waren
zu gefährlich. Ich hätte meine Arbeiten veröffentlichen müssen, der Umsturz
unserer Wissenschaft und das Zusammenbrechen des wirtschaftlichen Gefüges wären
die Folgen gewesen. Die Verantwortung zwang mir einen anderen Weg auf. Ich ließ
meine akademische Karriere fahren, die Industrie fallen und [74]  überließ meine
Familie ihrem Schicksal. Ich wählte die Narrenkappe. Ich gab vor, der König
Salomo erscheine mir, und schon sperrte man mich in ein Irrenhaus.
    NEWTON   Das war doch keine
Lösung!
    MÖBIUS   Die Vernunft forderte
diesen Schritt. Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren
gestoßen. Wir wissen einige genau erfaßbare Gesetze, einige Grundbeziehungen
zwischen unbegreiflichen Erscheinungen, das ist alles, der gewaltige Rest
bleibt Geheimnis, dem Verstände unzugänglich. Wir haben das Ende unseres Weges
erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht soweit. Wir haben uns vorgekämpft,
nun folgt uns niemand nach, wir sind ins Leere gestoßen. Unsere Wissenschaft
ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis
tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der
Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen
unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen. Es gibt keine andere
Lösung, auch für euch nicht.
    EINSTEIN   Was wollen Sie damit
sagen?
    MÖBIUS   Ihr besitzt Geheimsender?
    EINSTEIN   Na und?
    MÖBIUS   Ihr benachrichtigt eure
Auftraggeber. Ihr hättet euch geirrt. Ich sei wirklich verrückt.
    EINSTEIN   Dann sitzen wir hier
lebenslänglich.
    MÖBIUS   Sicher.
    EINSTEIN   Gescheiterten Spionen
kräht kein Hahn mehr nach.
    MÖBIUS   Eben.
    NEWTON   Na und?
    [75]  MÖBIUS   Ihr müßt bei mir im
Irrenhaus bleiben.
    NEWTON   Wir?
    MÖBIUS   Ihr beide.
    Schweigen.
    NEWTON   Möbius! Sie können von
uns doch nicht verlangen, daß wir ewig –
    MÖBIUS   Meine einzige Chance,
doch noch unentdeckt zu bleiben. Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im
Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken
Sprengstoff.
    NEWTON   Wir sind doch schließlich
nicht verrückt.
    MÖBIUS   Aber Mörder.
    Sie starren ihn verblüfft an.
    NEWTON   Ich protestiere!
    EINSTEIN   Das hätten Sie nicht
sagen dürfen, Möbius!
    MÖBIUS   Wer tötet, ist ein
Mörder, und wir haben getötet. Jeder von uns hatte einen Auftrag, der ihn in
diese Anstalt führte. Jeder von uns tötete seine Krankenschwester für einen
bestimmten Zweck. Ihr, um eure geheime Mission nicht zu gefährden, ich, weil
Schwester Monika an mich glaubte. Sie hielt mich für ein verkanntes Genie. Sie
begriff nicht, daß es heute die Pflicht eines Genies ist, verkannt zu bleiben.
Töten ist etwas Schreckliches. Ich habe getötet, damit nicht ein noch
schrecklicheres Morden anhebe. Nun seid ihr gekommen. Euch kann ich nicht
beseitigen, aber vielleicht überzeugen? Sollen unsere Morde sinnlos werden?
Entweder haben wir geopfert oder gemordet. [76]  Entweder bleiben wir im
Irrenhaus, oder die Welt wird eines. Entweder löschen wir uns im Gedächtnis der
Menschen aus, oder die Menschheit erlischt.
    Schweigen.
    NEWTON   Möbius!
    MÖBIUS   Kilton?
    NEWTON   Diese Anstalt. Diese
schrecklichen Pfleger. Diese bucklige Ärztin!
    MÖBIUS   Nun?
    EINSTEIN   Man sperrt uns ein wie
wilde Tiere!
    MÖBIUS   Wir sind wilde Tiere. Man
darf uns nicht auf die Menschheit loslassen.
    Schweigen.
    NEWTON   Gibt es wirklich keinen
andern Ausweg?
    MÖBIUS   Keinen.
    Schweigen.
    EINSTEIN   Johann Wilhelm Möbius.
Ich bin

Weitere Kostenlose Bücher