Die Pilgerin von Montserrat
immer bleiben wird. Meine Tage sind gezählt, meine Lieben. Bringt mir morgen den Leuchter auf dem Wagen, und ich werde sie zu einem unbekannten Zeitpunkt an einen unbekannten Ort bringen, dort sterben und das Geheimnis ihres Aufenthaltsortes für immer mit in mein Grab nehmen. Niemand wird sie je finden, denn ich weiß selbst noch nicht, wohin ich reisen werde. Ich bin zu schwach, um mir mit eigenen Händen ein Grab zu schaufeln. Möglicherweise wird ein Fluss uns aufnehmen, wie der Rhein die Nibelungen aufgenommen hat. Gehet hin in Frieden, wir sind alle Kinder des einen Gottes. Gepriesen seist du, Ewiger unser Gott, König der Welt, der uns nicht geschaffen hat als ihm Fremde.«
Der Rabbi hatte die Augen geschlossen, so dass Teresa glaubte, er sei eingeschlafen. Doch seine Lider zuckten, er schlug die wachsamen Augen wieder auf und verabschiedete sie mit einem »Schalom!«
Teresa fühlte sich sehr bewegt von dem, was sie gehört hatte. Zusammen mit den anderen ging sie gedankenverloren ins Kloster zurück. Hier hatten die Mönche inzwischen die Menora gesäubert und so blank poliert, dass sie in einem fast übernatürlichen Goldglanz strahlte. Teresa betrachtete sie noch einmal genau: die sieben Arme, die Blumen und Ranken, die Perlenschnur und den Fuß mit den Drachen und Tiermenschen. Jetzt wusste sie, was es zu bedeutenhatte. Sie alle waren fähig zum Denken und zur Barmherzigkeit, zur Liebe und zur Freundschaft, aber sie konnten auch wild und grausam sein. Alles war eins, es gab keine Unterschiede. Die Katharer hatten recht gehabt. Auch in ihr war beides vereint, der Wolf, die Gier, die Liebe und die Sanftmut. Alle hatten recht und keiner. Allein Gott wusste, was mit ihnen allen geschehen würde, wenn sie ihr Erdenleben beendet hatten. In Gedanken sah sie den Rabbi, der mit dem Wagen und der Menora fortfuhr, immer tiefer in die Wälder hinein, wo ihn niemand mehr finden würde. Das Geheimnis war für immer gelöst und blieb für immer ungelöst. Eine Hand berührte ihre.
»Komm!«, sagte Markus. Er zog sie zu der Steinbank, auf der sie schon früher gesessen hatten.
»Ich muss dir etwas erzählen«, sagte er. »Der Prior hat mich soeben gefragt, ob ich Abt werden, ob ich mich zur Wahl stellen will.«
Teresas Herz machte einen Satz. »Und … was hast du ihm geantwortet?«
»Dass ich es nicht machen möchte, sondern …«
»Sondern was?«
»Dich heiraten!«
Teresa verschlug es für einen Moment die Sprache. »Hast du mich denn schon gefragt?«
»Ich tue es doch gerade.«
»Aber du hast doch ein Gelübde abgelegt, zumindest hast du mir das die ganze Zeit erzählt!«
»Der Prior will das Kloster auflösen, nachdem ich meine Zustimmung verweigert hatte. Er sieht keinen würdigen Nachfolger mehr. Das Kloster wird dann ein evangelisches Seminar, die Lateinschule bleibt.«
»Ach, Markus, ich freue mich ja so!«
»Ich werde konvertieren, sonst können wir nicht heiraten.«
»Das würdest du für mich tun?« Teresa umarmte ihn und küsste ihn zärtlich. Dann löste sie sich von ihm. »Wir werden die Burgwieder in unseren Besitz nehmen, ich werde die Chronik schreiben und du wirst forschen, so wie es mein Vater getan hat.«
»Matthias werden wir zu uns nehmen, er ist bald mit der Schule fertig. Ich werde ihm eine ordentliche Ausbildung zukommen lassen.«
»Als Gelehrter? Vielleicht fragen wir meinen Bruder erst einmal selbst, was er werden will.«
Auf dem Friedhof wurden Vorbereitungen für eine Beerdigung getroffen. Die Hakenschützen, die bei dem Gefecht ums Leben gekommen waren, wurden einige Zeit später feierlich beigesetzt. Den Abt brachte man in die Kammer, in der die Menora und die beiden Toten Friedrich und Albrecht gefunden worden waren, und mauerte die Steintür zu, so dass sie für immer dort begraben sein würden. Teresa und Markus kehrten zunächst zu seinen Eltern zurück, denen sie alles erzählten und von denen sie herzlich willkommen geheißen wurden.
An einem Tag Mitte Mai des Jahres 1547 ritten Teresa und Markus, mit frischen Pferden ausgestattet, auf die Burg Wildenberg zu. Es war warm, die Sonnenstrahlen beglänzten die Blätter der Bäume, die fetten Ackerschollen und das junge Korn auf den Feldern, die Lerchen sangen hoch in der Luft.
»Was wir dort wohl finden werden?«, sinnierte Teresa. »Ob die Getreuen meines Onkels verschwunden sind? Hat man sie festgenommen? Und wo mögen sich Caspar und Heinrich aufhalten? Was meinst du, wo sich mein gottloser Onkel Werner versteckt
Weitere Kostenlose Bücher