Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Damals wohnte ich zum ersten Mal in meinem Leben allein und konnte tun und lassen, was ich wollte. Es waren unbeschwerte Tage für mich. Ich vertrieb mir die Zeit damit, mir die zahllosen Bahnhöfe in Tokio anzusehen und ihre Bauweise zu studieren. Ich zeichnete einfache Skizzen und notierte, was mir auffiel.«
»Klingt unterhaltsam«, sagte Sara.
Aber die Tage an der Universität waren weniger unterhaltsam. Auf dem Lehrplan standen kaum Vorlesungen zu seinem Spezialthema, und der größte Teil des Unterrichts war banal und langweilte ihn fast zu Tode. Trotzdem nahm er an fast allen Veranstaltungen teil, immer im Hinterkopf, wie schwer es gewesen war, auf diese Universität zu kommen. Er lernte eifrig Deutsch und Französisch und übte im Sprachlabor englische Konversation. Sprachen zu lernen war eine neue Entdeckung für ihn. Aber es gab in seiner Umgebung keinen einzigen Menschen, der sein persönliches Interesse erregte. Verglichen mit der bunten Gruppe seiner vier Freunde aus der Schulzeit erschienen ihm alle anderen Menschen flach und ohne Persönlichkeit. Kein einziges Mal begegnete er jemandem, den er gern näher kennengelernt oder mit dem er sich gern länger unterhalten hätte. Daher verbrachte er den Großteil seiner Zeit in Tokio allein. Immerhin las er deshalb viel mehr als früher.
»Hast du dich denn nicht einsam gefühlt?«, fragte Sara.
»Nun ja, ich war vielleicht ziemlich isoliert, aber besonders einsam fühlte ich mich nicht. Ich nahm das eher als einen natürlichen Zustand hin.«
Er war noch jung und wusste nicht viel von der Welt. Tokio war neu für ihn, und viele Dinge funktionierten anders als dort, wo er bisher gelebt hatte. Die Unterschiede waren größer, als er vorausgesehen hatte. Die Ausmaße der Stadt waren unüberschaubar, und was sie enthielten, war zu vielfältig und auswuchernd. Ganz gleich, was er tat, die Auswahl war überwältigend. Die Menschen hatten eine eigene Art zu sprechen, und die Zeit verging zu schnell. Es gelang ihm nicht, ein ausgewogenes Verhältnis zu seiner Umgebung herzustellen. Dabei hatte er damals noch einen Ort, an den er zurückkehren konnte. Er brauchte nur am Bahnhof Tokio in den Shinkansen zu steigen und war in anderthalb Stunden wieder an dem vertrauten Ort der »vollkommenen Harmonie«. Dort, wo die Zeit friedlich dahinfloss und seine Freunde auf ihn warteten.
»Und wie ist es jetzt ? Hast du ein ausgewogenes Verhältnis zu deiner Umgebung gefunden?«, fragte Sara.
»Ich bin seit vierzehn Jahren bei meiner Firma. Ich bin nicht unzufrieden mit meiner Stelle, meine Arbeit gefällt mir. Mit den Kollegen komme ich gut aus. Es gab auch ein paar Frauen in meinem Leben. Auch wenn ich aus verschiedenen Gründen mit keiner zusammengeblieben bin, war das nie ausschließlich meine Schuld.«
»Und du bist allein, fühlst dich aber nicht sonderlich einsam.«
Es war noch früh, und die beiden waren die einzigen Gäste. Ein Klaviertrio spielte leisen Jazz.
»So ist es wohl«, sagte Tsukuru nach kurzem Zögern.
»Aber es gibt keinen Ort mehr, an den es dich zurückzieht, nicht wahr? Keinen vertrauten Ort der vollkommenen Harmonie.«
Tsukuru dachte nach. Obwohl er darüber eigentlich nicht nachzudenken brauchte. »Nein, den habe ich nicht mehr«, sagte er leise.
Es war in den Sommerferien seines zweiten Jahres an der Universität, als er erfuhr, dass er diesen Ort für immer verloren hatte.
2
Es geschah also in seinem zweiten Studienjahr. In jenem Sommer trat eine radikale Veränderung in Tsukuru Tazakis Leben ein. Wie die Flora vor und hinter einem steilen Bergkamm eine ganz und gar andere sein kann.
Kaum hatten die Ferien begonnen, war er wie immer mit kleinem Gepäck in den Shinkansen gestiegen. In Nagoya angekommen, rief er sofort seine Freunde an, erreichte jedoch keinen von ihnen. Sicher waren sie gemeinsam unterwegs. Er hinterließ bei allen eine Nachricht, schlenderte allein durch die Stadt und schlug die Zeit tot, indem er sich einen Film anschaute, der ihn nicht besonders interessierte. Nachdem er mit seiner Familie zu Abend gegessen hatte, rief er nochmals seine Freunde an. Es war noch keiner von ihnen zurück.
Am Vormittag des folgenden Tages rief er erneut an, aber auch diesmal traf er keinen von den vieren an. Wieder hinterließ er die Nachricht, sie mögen ihn doch bitte zurückrufen. Die jeweiligen Familienmitglieder versprachen, es auszurichten. Doch in ihrem Tonfall schwang etwas mit, das ihn beunruhigte. Am ersten Tag war es ihm nicht
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