Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
wäre etwas in mir durchtrennt worden.«
Saras Wein und ein neuer Teller mit Nüssen wurden gebracht. Sie sprach erst wieder, als der Bartender gegangen war.
»Ich habe eine solche Erfahrung noch nie gemacht, aber ich kann mir vorstellen, wie entsetzlich du damals gelitten hast. Natürlich konntest du dich nicht sofort wieder fangen. Aber nachdem eine gewisse Zeit verstrichen und der erste Schreck vergangen war, hättest du doch etwas unternehmen können. Ein solches Rätsel kann man doch nicht auf sich beruhen lassen. Das muss dich doch beschäftigt haben.«
Tsukuru schüttelte den Kopf. »Am nächsten Morgen fuhr ich unter einem Vorwand mit dem Shinkansen nach Tokio zurück. Ich wollte keinen Tag länger in Nagoya bleiben. Nur weg, etwas anderes konnte ich nicht denken.«
»Ich an deiner Stelle wäre geblieben, bis ich den Grund herausgefunden hätte«, sagte Sara.
»Die Kraft hatte ich nicht«, erwiderte Tsukuru.
»Aber wolltest du denn nicht die Wahrheit wissen?«
Während Tsukuru seine Hände auf dem Tisch betrachtete, wählte er sorgfältig seine Worte. »Ich glaube, ich hatte Angst vor dem, was herauskäme, wenn ich der Sache nachging. Was auch immer die Wahrheit war, ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mich retten würde. Warum, weiß ich nicht, aber davon war ich überzeugt.«
»Und jetzt? Denkst du noch genauso?«
»Ich weiß nicht«, sagte Tsukuru. »Aber damals war es so.«
»Deshalb bist du nach Tokio zurückgefahren, hast dich in deiner Wohnung vergraben und die Augen und Ohren verschlossen.«
»Vereinfacht ausgedrückt.«
Sara legte ihre Hand auf seine. »Armer Tsukuru Tazaki«, sagte sie.
Das Gefühl dieser zarten Berührung durchströmte nach und nach seinen ganzen Körper. Kurz darauf zog sie die Hand zurück, um ihr Weinglas zum Mund zu führen.
»Seit damals fahre ich nur noch nach Nagoya, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt«, sagte Tsukuru. »Auch dann verlasse ich kaum das Haus und reise wieder ab, sobald ich alles erledigt habe. Meine Mutter und meine Schwestern waren damals natürlich sehr besorgt und fragten mich immer wieder, was denn los sei, aber ich habe es ihnen nicht erzählt. Ich konnte es einfach nicht.«
»Weißt du, wo deine vier Freunde jetzt sind und was sie machen?«
»Nein, ich habe keine Ahnung. Mir hat niemand etwas gesagt. Ehrlich gesagt möchte ich es auch gar nicht wissen.«
Sara schwenkte den Wein in ihrem Glas und beobachtete, wie er darin kreiste. Als könne sie das Schicksal darin erkennen.
»Ich finde das alles sehr seltsam. Diese Sache hat dein Leben völlig verändert. So ist es doch?«
Tsukuru nickte. »Seit damals bin ich in vielerlei Hinsicht ein anderer Mensch geworden.«
»In welcher zum Beispiel?«
»Ich glaube, ich bin ein nutzloser, langweiliger Typ geworden. Für andere und auch für mich selbst.«
Sara sah ihm eine Weile in die Augen. »Du bist weder nutzlos noch langweilig«, sagte sie dann ernst.
»Danke«, sagte Tsukuru und drückte leicht seine Finger gegen die Schläfen. »Aber das Problem ist in meinem Kopf.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Sara. »Ganz offensichtlich leidest du in deinem Kopf oder in deinem Herzen oder in beidem noch unter der Verletzung von damals. Trotzdem hast du in den ganzen sechzehn Jahren nicht einen Versuch gemacht, der Sache auf den Grund zu gehen und zu erfahren, warum du das durchmachen musstest.«
»Es ist nicht so, dass ich die Wahrheit nicht wissen will. Aber mittlerweile finde ich es besser, das Ganze zu vergessen. Es ist so lange her und bestimmt schon in irgendwelche tieferen Schichten abgesunken.«
Sara presste ihre zarten Lippen zusammen, bevor sie weitersprach. »Das könnte gefährlich werden.«
»Gefährlich?«, fragte Tsukuru. »Inwiefern?«
»Auch wenn man ein Erlebnis tief in sich begräbt, kann man die Geschichte, die es hervorgebracht hat, nicht auslöschen«, sagte Sara und blickte ihm direkt in die Augen. »Daran solltest du denken. Du kannst deine Geschichte weder auslöschen noch rückgängig machen. Denn damit würdest du zugleich dein inneres Wesen töten.«
»Wie sind wir bloß auf dieses Thema gekommen?«, sagte Tsukuru wie zu sich selbst. Und dann in heitererem Ton: »Ich habe bisher noch nie jemandem davon erzählt und hatte auch nicht die Absicht, es jemals zu tun.«
Sara lächelte. »Vielleicht musstest du es ja mal jemandem erzählen. Dringender, als du dachtest.«
Nach seiner überstürzten Abreise aus Nagoya in jenem Sommer war Tsukuru von dem
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