Die Poison Diaries
oder Schmerzen.
Wenn ich früher übers Land zog, hatte ich meine Haube tief ins Gesicht gezogen und sprach kein Wort. Ich war zu schüchtern, kam mir zu unbedeutend vor, um mich mit anderen Menschen zu unterhalten. Jetzt bin ich bekannt und geschätzt – und werde sogar ein wenig gefürchtet. Das ist mir ganz recht.
Aber in meinem Inneren ist nur Schmerz und Leere. Mein Herz, einstmals prall und überschäumend vor Glück und Freude, liegt brach. Alles riecht und schmeckt nach Staub.
Weed
, habe ich wohl schon tausendmal geflüstert, während ich allein über die Wiesen von Hulne Park wanderte.
Wo bist du? Warum hast du mich verlassen? Wann wirst du zu mir zurückkehren?
Aber das eintönige Brausen des Grases im Wind ist die einzige Antwort, die ich bekomme.
Sag ihm, dass ich ihn immer noch liebe
, schluchze ich, an den Stamm einer alten Kiefer gepresst.
Bitte sag es ihm.
Keine Antwort.
***
Zu gerne würde ich wieder einschlafen und mich in den bittersüßen Traum all dessen fallen lassen, was ich verloren habe. Aber ich muss aufstehen und mich ankleiden. Es ist Sonntag.
Ich gehe jetzt sonntags in die Kirche. Ich gehe allein, denn mein Vater beugt sich keinem Gott außer seiner Wissenschaft. Den überprüften und belegten Theorien längst verstorbener Männer, deren Berichte in den modrig riechenden Büchern niedergeschrieben wurden, die in der Bibliothek des Herzogs stehen. Dies sind die einzigen heiligen Texte, die mein Vater anerkennt.
Ich hingegen habe mich schon oft gefragt, welche Macht das derart vielfältige Leben auf Erden erschaffen haben mag, weshalb wir einander so sehr brauchen und gleichzeitig so sehr verletzen, aber auch auf diese Fragen habe ich noch keine Antwort bekommen. Trotzdem gehe ich zur Kirche, laufe die ganzen drei Meilen zu Fuß in der heißen Augustsonne. Ich tue das zu meinem eigenen Schutz. Eine Frau, die zu heilen versteht, wird immer mit dem Schatten des Verdachts leben, Hexerei zu praktizieren, jedenfalls in diesem Teil des Landes. Zwar wurden die Hexenprozesse lange vor meiner Geburt verboten, aber die Menschen auf dem Land sind furchtsam und abergläubisch.
Wir leben im Norden Englands. Hier ist das Land wunderschön, aber rau. Die Erde, der Wind und das Meer lassen sich nicht so leicht beherrschen. Genauso wenig wie die Menschen. Hier ist es anders als in London, wo man sich unentwegt nach etwas Neuem sehnt. Im Norden wird alles Neue misstrauisch beäugt.
Als Letzte husche ich in die Kapelle, damit jeder sehen möge, dass ich eine tugendhafte und gottesfürchtige junge Frau bin – und dass meine Fähigkeit zu heilen nichts anderem entspringt als den Pflanzen, die ich einsetze: einem Zweig Mutterkraut etwa, einem Aufguss aus Kamille oder einer Salbe aus Knoblauch und Nelken.
»Guten Morgen, Miss Luxton«, murmeln die Menschen, an denen ich vorbeigehe. »Einen guten Tag und gute Gesundheit für Euch.« Wenn sie nach meinem Vater fragen und sich wundern, warum er nicht länger unter Menschen geht, sage ich, dass er mit seinem Apothekergarten beschäftigt ist oder in der Bibliothek des Herzogs in Alnwick Castle studiert. Die Wahrheit ist, dass sich sein eigenbrötlerisches Wesen seit meiner Genesung zu einer beständig düsteren Laune verschlechtert hat. Er arbeitet Tag und Nacht, entweder in seinem Arbeitszimmer oder im Garten. Bei den Mahlzeiten ist er noch schweigsamer als sonst, und wenn wir einander im Haus begegnen, blickt er mich kaum an.
Ich hielt mich für einsam, bevor Weed auftauchte und ich allein mit meinem strengen Vater in den Räumen der Abtei lebte. Jetzt scheint es, als hätte ich nicht nur Weed, sondern auch meinen Vater verloren.
Mit geradem Rücken sitze ich auf einer Kirchenbank, nicht weit von der Tür entfernt. Ich stehe auf, wenn uns der Prediger dazu auffordert, sinke auf die Knie, wenn es Zeit ist zu knien. Und wenn wir die Hymnen singen, dann erhebe ich meine Stimme mit allen anderen Gemeindemitgliedern, laut genug, um gehört zu werden, aber nicht so laut, als dass ich über Gebühr Aufmerksamkeit erregt hätte.
Nach dem Gottesdienst bleibe ich mit gesenktem Kopf an meinem Platz stehen. Jene, die meine Hilfe suchen, treten nacheinander zu mir. »Miss Luxton, der Kleine will nicht aufhören zu husten.« »Miss Luxton, es ist jetzt schon eine Woche her, aber die Wunde ist noch nicht verheilt.« »Miss Luxton, es ist bald Zeit, und ich brauche jemanden, der mir die Schmerzen nimmt, wenn das Kindlein kommt. Kann ich meine Magd zu Ihnen
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