Die Poison Diaries
sterbendes Lamm; die Irrenhäuser von London; zwei mächtige, entsetzliche Flügel.
Ich stelle das Glas ab. »Als ich krank war, hatte ich entsetzliche Träume, Vater«, sage ich leise. »Einige davon hatten mit dir zu tun. Damit, was du getan hast, wenn du in London warst.«
Seine Augen glitzern im Licht der Flammen. »Nimm einen Schluck, meine Liebe, es wird dich stärken.«
»Ich träumte, dass du in den Irrenhäusern warst, Vater. Dass du den Geisteskranken Gift gegeben hast, um deine Rezepturen zu testen.«
Er erhebt sich so schnell, dass er das Glas verschüttet. »Wie merkwürdig. Welche Phantasien uns unser Geist vorgaukelt, wenn wir krank sind …«
Ich stehe ebenfalls auf, wobei ich meinen Kopf umklammert halte, als ob ich diese Stimme bei der Wurzel ausreißen könnte. »Phantasien? Das dachte ich auch zunächst. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
Aufgepasst, mein Liebchen … Du kennst die Wutanfälle deines Vaters …
Ich sehe, wie die blaue Ader auf Vaters Stirn pocht. Seine Worte sind ruhig, aber seine Stimme ist wie eine gespannte Bogensehne, so wütend ist er. »Jessamine, mir will scheinen, dass dich deine Krankheit mehr mitgenommen hat, als ich glaubte. Ich schlage vor, du gehst jetzt zu Bett. Ich kenne ein paar Mittel, die dir helfen.«
»Deine Mittel!« Beinahe hätte ich vor Abscheu ausgespuckt. »Deine Heilmittel sind nichts anderes als Gift, Vater. Ich glaube, alles, was du mir gesagt hast, war gelogen, und dass das, was ich für einen Albtraum hielt, die reine Wahrheit ist.«
Wieder nehmen die Bilder Gestalt an – wie ich, getragen von zwei dunklen Schwingen, über Northumberland fliege. »Weeds Liebe zu mir und meine Liebe zu ihm ist das Wahrhaftigste von allem«, keuche ich. »Wenn du mir nicht sagen willst, wo er ist, dann werde ich mich selbst auf die Suche machen müssen.«
»Genug.« Mit drei langen Schritten durchquert er den Raum. »Ich werde dir sagen, was du wissen willst. Aber ich muss dich warnen: Du könntest deine Wissbegier bereuen.« Er bedeutet mir, mich zu setzen. »Während du krank warst, veränderte sich Weed. Wegen seines außergewöhnlichen Talents für Pflanzen fühlte er sich wohl für deine Heilung verantwortlich und wurde buchstäblich wahnsinnig, als es ihm nicht gelang. Er wurde aufbrausend und völlig unvernünftig. Dann ging er fort. Ich konnte ihm nicht nachlaufen, weil ich es nicht wagte, dich allein zu lassen. In dieser Nacht befandest du dich auf der Schwelle zum Tod.«
Der Feuerschein umspielt meinen Vater und wirft zuckende Schatten auf den Steinboden. »Er hat dich im Stich gelassen, Jessamine, und dafür solltest du ihn verachten, anstatt auf seine Rückkehr zu hoffen. Aber du tust recht daran, mich einen Lügner zu nennen. Denn er ist nicht einfach nur weggerannt, wie ich dir in der Vergangenheit weismachen wollte.«
Ich sitze da, so reglos wie eine Säule, die ein Kirchendach trägt, während sich Vaters Stimme senkt. »Du warst so schwach. Ich dachte, die Wahrheit würde dich umbringen. Mit der Zeit würdest du dich mit meiner Geschichte abfinden, hoffte ich, und stärker werden und niemals herausfinden, was mit diesem Feigling wirklich geschah. Ich betete, dass du ihn vergessen würdest. Er hat uns beide zum Narren gehalten. Ich tadele dich nicht, dass du dich von ihm an der Nase herumführen ließest. Mir ging es ebenso.«
Die Flammen lecken in den Kamin und die Schatten tanzen einen spöttischen Reigen. Die Worte meines Vaters dröhnen wie eine Glocke.
»Weed ist tot. Er hat sich erhängt, in einem entlegenen Winkel von Hulne Park. Ich habe ihn gefunden. Dieser Narr!«
Vater nähert sich mir und legt mir die Hand auf die Schulter. Seine Worte locken meine Tränen hervor. Das ist nicht schwer. Ich weine oft in diesen Tagen.
»Ich hielt es für zu grausam, dir die Wahrheit zu sagen. Aber es ist wohl grausamer, dich mit einer Illusion leben zu lassen, die sich niemals erfüllen wird.« Er tritt zurück und breitet die Arme aus, als ob er erwarten würde, dass ich mich in seine Umarmung stürze. »Bitte vergib mir, Jessamine. Oh, du weißt ja nicht, wie schwer es ist, ein Vater zu sein! Die Sünden, die wir begehen, um unsere Kinder zu beschützen!«
Ich stehe auf. Vater macht einen Schritt auf mich zu. Ich wirbele herum und renne aus dem Haus, hinein in den Sturm.
»Jessamine …« Seine Stimme folgt mir zur Tür, aber in dem Moment, in dem ich ins Freie komme, löscht der kreischende Wind alle anderen Geräusche aus,
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