Die Poison Diaries
die zu entsetzlich sind, um sie näher zu beschreiben. An jedem Kreuzweg abgeschlagene Köpfe, aufgespießt auf Lanzen. Wegelagerer, die jeden umbringen – Männer, Frauen und Kinder – den sie verdächtigen, ein Feind der Revolution zu sein.
Ich sehe das alles und fühle doch kaum etwas. Die schrecklichsten Taten der Menschen können sich kaum mit den bösen Intrigen einer fehlgegangenen Natur messen.
Erst nachdem Jessamine fortgerannt war und sich der Nebel des Verlangens gelichtet hatte, erkannte ich, dass auch ich heimtückisch vergiftet worden war. Aber da war sie schon verschwunden.
Beides, sowohl das Aphrodisiakum als auch ihre Flucht, war Oleanders Werk. Die Pflanzen des
Orto botanico
wollten mir nicht sagen, wohin er sie bringen würde, aber in meinem Herzen weiß ich die Antwort: Nach England. Nach Northumberland. In den Giftgarten.
Und dorthin will auch ich.
Dieser Höllengarten verfolgt mich bis in meine Träume. Jede Nacht wehre ich mich solange es geht gegen den Schlaf, denn in dem Moment, in dem ich meine Augen schließe, kehrt der Albtraum zurück. Der Giftgarten, kahl und tot im Winterlicht. Nackte Zweige und erfrorene Stängel. Der Schnee bedeckt den Boden, bis auf eine Stelle, wo das Wasser nicht gefrieren will.
Im Traum habe ich Flügel, wie Oleander. Ich gleite aus dem Himmel herab und lege meine Hand auf die Stelle. Überall sonst ist die Erde gefroren. Hier ist sie so warm wie lebendiges Fleisch.
Über den gesamten Norden von England legt sich ein Laken aus Schnee, verhüllt die Felder und sammelt sich zu hohen Verwehungen. Doch auf dieser einen Stelle schmelzen die Flocken, sobald sie die Erde berühren. Und diese Stelle hat eine Form: Wo der Schnee nicht liegen bleibt, wird die Kontur eines Körpers sichtbar, eines weiblichen Körpers mit ausgebreiteten Armen.
Er hat sie mitgenommen!
, schreie ich den Wäldern und Feldern entgegen. Aber die immergrünen Pflanzen schlummern, genauso wie alle, die ihr Laub abgeworfen haben. Sie schlafen tief unter der Erde.
Ich lege mich auf die Stelle und passe meine Glieder der Kontur an. Hier hat meine Geliebte gelegen. Die Kälte nicht spürend, lasse ich mich vom Schnee zudecken. Ich kralle mich in die Erde, als ob mich die Welt abschütteln und mich hinaus in die Weiten des Himmels werfen wollte.
Ich drücke meine Lippen auf die Erde und rufe ihren Namen, wieder und wieder, bis mein Mund voller Dreck ist und meine Tränen auf meinen Wangen zu Eis gefrieren.
Jessamine – Jessamine – Jessamine!
Das ist der Augenblick, in dem ich erwache. Jedes Mal. Zitternd vor Kälte, die kein Ende nehmen will. Es ist die bittere Kälte eines Winters, auf den womöglich kein Frühling mehr folgen wird.
Ich ziehe meinen Mantel eng um mich und gehe weiter. Nicht mehr lange, und ich habe Calais erreicht. Wenn Wind und Wetter mir wohlgesonnen sind, brauche ich nur eine halbe Tagesreise, um über den Kanal nach Dover zu segeln. Dann über Land nach Norden, nach Northumberland. Was mich dort erwartet, wissen Gott und der Teufel allein.
Aus dem tiefhängenden grauen Himmel fällt der Schnee.
Endlos.
Impressum
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung: © Gustavo Marx/MergeLeft Reps Inc. 2010
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402423-3
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