Die Priesterin von Avalon
doch ich hatte mir in Palästina ein einfacheres Leben angewöhnt. Ich war nun beinahe achtzig Jahre alt, und ich sagte ihr, ich hätte mir durchaus das Recht verdient, zu tun und zu lassen, was ich wollte, soweit mein alternder Körper es zuließ. Allzu oft wurden die Alten in eine Ecke geschoben, auf ein Landgut geschickt, wo sie ihren Nachfolgern nicht im Wege standen, oder gar auf die Straße gesetzt, wenn sie keine Kinder hatten, die sich, wenn auch widerstrebend, um sie kümmerten. Eine vergoldete Ikone zu werden, die man sicher in einer Nische an der Wand aufbewahrte und nur an Festtagen herausholte, war nur die bequemere Art, beiseite geschoben zu werden.
Schon einmal war ich beiseite geschoben worden, als Konstantius mich verließ, um Theodora zu heiraten, und ich hatte nicht vor, das noch einmal zuzulassen. Ich mochte zwar alt sein, aber machtlos war ich nicht.
Mir fiel ein, wie ich die Kranken während der Pestepidemie gepflegt hatte, und ich trug Cunoarda auf, in einen Laden zu gehen, der gebrauchte Kleidung verkaufte, und Sachen zu erstehen, die eine arme Witwe tragen würde. Sie kam mit zwei langärmeligen Gewändern zurück, das eine in verschossenem Braun, das andere blassblau, beide sauber geflickt, dazu feste Sandalen und ein paar gebleichte Leinenschleier. Die Priester in der Kirche von Marcellinus und Petrus hatten mich nur mit Schmuck und parfümiert gesehen, das Gesicht zur Hälfte von dem purpurnen Schleier verdeckt. Ich bezweifelte, dass sie mich mit dem weißen Leinen um die Stirn und in formlosem Gewand erkennen würden.
Das traf auch zu. Ich war nur eine unter vielen alten Frauen, die Essen an die Hungernden und Kleider und Medikamente an die Armen verteilten. Die Tätigkeit vertrieb meine Niedergeschlagenheit ein wenig, doch nach einem Jahr in Palästina empfand ich den Winter in Rom als rau und kalt. Im Dezember wurde ich krank und ging monatelang nicht aus dem Haus.
Während ich in meinem Schlafgemach lag und abwechselnd vor Kälte zitterte und im Fieber brannte, wurde mir klar, dass mein Leben zu Ende ging. Das war das letzte Gleichnis des Alters, uralt, machtlos, unnütz. Ich schrie nach Kraft und Gottes Hilfe und kam gleich einer Geweihten, welche die Tiefen der Mysterien ergründet, schließlich in einem leeren Schrein zur Ruhe. Hier wurde mir das Geheimnis anvertraut - es gibt keinen Gott und keine Göttin, nur die Macht der Mutter im Menschen selbst, die ihm alle Kraft gibt, und sei es noch so wenig.
Da erkannte ich, dass ich meinen eigenen Folterer geboren hatte, der sich an mir nährte und mich zerstörte. Jetzt, am Ende des Lebens, musste ich mich dem ebenso schmerzhaften Prozess unterziehen, mein Selbst zu gebären, ganz allein. Ich musste die Macht über mein Kind aufgeben, mich von ihm lösen und unbeteiligt zusehen, wie er seine Welt baute. Warum überraschte mich das? Hatte ich nicht schon immer gewusst, dass ich nach eigenem Willen handelte - als ich Avalon mit Konstantius verließ und Verantwortung für mein Kind übernahm? Als ich das tat, wurde ich zur Göttin mit derselben rücksichtslosen Macht.
Jetzt hatte ich meinem Kind entsagt, und der Enkel, den ich geliebt hatte, war mir genommen worden. Nun war es jüngeren Frauen gegeben, Kinder auszutragen und sich um sie zu kümmern. Ich konnte Weisheit und Rat weitergeben, doch es war nicht mehr an mir, mich mit weltlichen Angelegenheiten abzugeben, es sei denn, um den Jüngeren meine Erfahrungen zu vermitteln.
Mir blieb nichts außer meinem hohen Alter, meiner nachlassenden Kraft und am Ende dem Tod. Doch allmählich wurde mir bewusst, dass sich mir damit auch eine Möglichkeit öffnete. Als Mutter musste ich mich zugunsten anderer in den Hintergrund stellen. Nun war ich wieder frei, einzig und allein ich selbst, und konnte nur für mich leben. Die Zeugungsfähigkeit hatte der Gestaltungsmöglichkeit Platz gemacht.
Als ich schließlich kräftig genug war, um aufzustehen und herumzulaufen, war der Frühling wieder eingekehrt. Der kleine Dornbusch, den ich direkt vor der Kapelle in meinem Palast eingepflanzt hatte, war angegangen und setzte nun starke grüne Triebe an, die mit weißen Blüten verziert waren. Wenn ich ihn anschaute, sah ich nicht meine wohlgepflegten Gärten, sondern Nebel über dem Wasser und den sanften grünen Hang des heiligen Tor.
Ich ließ einen Beamten kommen, und mit seiner und Cunoardas Hilfe begann ich, meinen letzten Willen auszuarbeiten. Jede Einzelheit musste bedacht werden, angefangen
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