Die Priesterin von Avalon
Morgenwind, blies die Asche gleich einer Rauchfahne in die Höhe und fegte sie hinaus, wo sie wie ein Segen auf den grünen Abhang des Tor fiel.
Manchmal hatte ich schaudern müssen, als ich zu Anfang von dieser Tradition erfuhr. Allein der Gedanke, dass ich vielleicht auf die Überreste von Caillean oder Sianna oder einer der legendären Priesterinnen trat, die ihnen gefolgt waren! Aber in Wirklichkeit war die Erde des Tor ebenso heilig wie sie. Ihr Staub weihte und segnete ihn zugleich. Sie waren ein und dasselbe.
Die Priester und Priesterinnen erwachten aus der starren Haltung ihrer Nachtwache, als wären sie aus einem Bann erlöst. Als Dierna aufschaute, riss sie die Augen auf, und ich wusste, dass sie als Einzige im Kreis mich dort stehen sah.
»Hier solltest du stehen«, flüsterte sie und berührte ihren Schmuck. »Kehrst du jetzt zu uns zurück?«
Doch ich schüttelte lächelnd den Kopf und verneigte mich mit der einer Kaiserin würdigen Ehrerbietung vor ihr, mit der ich die Herrin von Avalon stets geehrt hatte.
Während des Frühstücks schwieg ich und dachte an die Visionen der Nacht. Der Palast, den der Pöbel während des Aufstands niedergebrannt hatte, war wieder neu errichtet worden, und meist nahmen wir unser erstes Mahl am Morgen in einem freundlichen Zimmer ein. Es blickte auf den überschatteten Weg, der um den Garten herumführte. Konstantius, der gerade mit seinem Haferschleim fertig war, erkundigte sich besorgt nach meinem Befinden.
Ich nickte. »Ist schon gut - ich hatte einen seltsamen Traum.«
»Nun, dann müsste ich etwas mit dir bereden. Ich hätte es schon längst ansprechen sollen.«
Ich zwang mich, meine Aufmerksamkeit von meinen eigenen Sorgen abzuwenden, und fragte mich, was um alles in der Welt es sein könnte. Über ein Jahr war vergangen, seitdem Carus die Macht übernommen hatte. Die Nachrichten aus dem Osten waren glorreich - die Städte Seleucia und Ktesiphon hatten sich beinahe widerstandslos ergeben, und der Feind, der von Kämpfen an den eigenen östlichen Grenzen abgelenkt war, schien nicht in der Lage, dem römischen Vormarsch etwas entgegenzusetzen. Es konnte also sein, dass die Parther, die seit dem ersten Augustus eine ständige Bedrohung gewesen waren, endlich besiegt wurden. Aber was hatte das alles mit Konstantius und mir zu tun?
»Glaubt der Kaiser, du könntest Carinus irgendwie im Zaum halten?«
Während der vorangegangenen Monate war deutlich geworden, dass dem jungen Mann das Geschenk der imperialen Macht in der Stadt der Cäsaren zu Kopf gestiegen war. Er hatte die Berater, die sein Vater ihm an die Seite gestellt hatte, hinrichten lassen und durch seine Saufkumpane ersetzt. Innerhalb von wenigen Monaten hatte er neun Frauen geheiratet und sich von ihnen scheiden lassen; die meisten waren schwanger. Und man erzählte sich von weiteren Ausschweifungen. Wollte Konstantius versuchen, ihn zu beraten, würde es ihm wahrscheinlich nicht anders ergehen als den anderen. Kein noch so großes Pflichtgefühl vermochte ein derart sinnloses Opfer zu rechtfertigen.
»Nein - der Kaiser war schon immer eher ein Mann der Gerechtigkeit denn der Gnade, und ich fürchte, er hat die Hoffnung aufgegeben, dass sein älterer Sohn sich als wertvoll erweisen wird. Er sucht also einen Ersatz…« Er verstummte und rührte unablässig mit dem Löffel in der leeren Schüssel. »Er will mich adoptieren.«
Ich war sprachlos. Das war mein Konstantius, der Haaransatz etwas höher und die Gestalt untersetzter als die des jungen Mannes, der dreizehn Jahre zuvor mein Herz gestohlen hatte, aber die ehrlichen grauen Augen waren unverändert. Ich betrachtete die Gesichtszüge des Mannes, der zwölf Jahre lang mein Gefährte gewesen war; sie waren überlagert vom Glanz, der ihn umhüllt hatte, als er im Schein des Beltanefeuers zum ersten Mal zu mir gekommen war. Wenn er Cäsar würde, dann würde alles anders.
»Es ist eine Ehre, die man nicht einfach ausschlagen darf.«
Ich nickte, hatte ich doch von Anfang an gewusst, dass Konstantius für Größeres bestimmt war. War das die Bedeutung meines Gelübdes an Ganedas Seele? Ich würde nie Herrin von Avalon sein, aber vielleicht würde ich eines Tages sogar Kaiserin.
»Aber warum du?«, sprudelte es plötzlich aus mir hervor. »Niemand hätte es besser verdient, aber wann hatte er die Gelegenheit, dich so gut kennen zu lernen?«
»In der Nacht nach der Meuterei, als Probus tot war. Carus und ich hielten uns in einer Fischerhütte am Rande
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