Die Prophezeiung der Schwestern - 1
und zu Atem kommen, als ich den Scheitel des Hügels erreiche. Meine Beine sind von dem Kampf mit dem Fluss noch schwach. Als ich in der Lage bin zu atmen, ohne dass mir ein Stechen die Brust zerreißt, gehe ich weiter bis zum Rand der Klippe. Auch jetzt ist es fast unmöglich, angesichts der Schönheit des Sees nicht in Ehrfurcht zu erstarren. Wer könnte den bezaubernden Schimmer seines Wassers leugnen? Es ist kein so schrecklicher Ort, um sein Leben zu beenden, und in einem Augenblick voller morbider Klarheit ahne ich, warum meine Mutter ihn erwählte.
Ich schiebe mich langsam zur Kante vor - näher, näher -, bis meine Zehen fast über den felsigen Rand ragen. Der Wind peitscht mir das Haar aus dem Gesicht und raschelt in den Blättern der Bäume hinter mir. Ich bilde mir ein, meine Mutter an diesem Ort mehr als anderswo zu spüren. Ich frage mich, ob sie an derselben Stelle stand, an der ich jetzt stehe, ob sie genau wie ich das Kräuseln der Wellen beobachtete. Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich mit Sicherheit, wie sehr ich mit ihr verbunden bin, dass sie und ich eins sind, und mit uns alle anderen Schwestern.
Aber ich habe diese Schwestern im Stich gelassen. Mein Vater benötigte mehr als ein Jahrzehnt, um die Liste zusammenzustellen, die uns alle gerettet hätte, und trotz aller Hilfe - mehr, als je eine Schwester vor mir hatte - habe ich versagt. Die Liste ist weg, und mit ihr jede Hoffnung, die Schlüssel zu finden, die Prophezeiung zu beenden.
Ich müsste wieder von vorne anfangen, und das würde Jahre dauern - Jahre, in denen Sonia und Luisa beständig in Gefahr schweben würden. Jahre, in denen ich der immerwährenden Folter durch die Seelen ausgesetzt wäre. Jahre, in denen ich nicht einmal ruhig einschlafen könnte, ohne zu befürchten, ich könnte das Untier in die Welt lassen.
Und dann ist da noch Henry. Wenn ich mit dem Wunsch geboren worden wäre, meine Rolle in der Prophezeiung zu erfüllen, hätte Alice Henry nicht zum Fluss gebracht, um die Liste von ihm zu erpressen. In einem anderen Leben, in einer anderen Welt hätten Alice und ich vielleicht an einem Strang gezogen, um die Prophezeiung zu erfüllen. So aber wurde Henry zum Spielball in unserem grausamen Wettstreit.
Pass auf Henry auf, Lia . Die Worte meiner Mutter prallen von den Wänden meines Geistes ab, bis mir die Tränen über das Gesicht laufen, langsam erst, dann immer schneller, bis der Kragen meines Nachthemdes gänzlich durchnässt ist. Ich schluchze in den Wind, will loslassen, will meine Arme öffnen und fallen. Aber dann spricht sie wieder zu mir.
Es gibt keine Fehler, Lia.
Ich weine noch heftiger. »Ich will es nicht sein!«, schreie ich zu dem Wasser unter mir hinab. »Warum muss ich es sein?«
Das Wasser gibt mir keine Antwort, wohl aber der Wind. Er schickt eine mächtige Böe, die mich vom Rand der Klippe
zurücktreibt, bis ich mich etwas von der Kante entfernt auf den Boden fallen lasse.
Dann erstirbt der Wind. Er schwächt sich nicht ab, sondern er verstummt völlig. Die Blätter schweigen, und das einzige Geräusch, das zu hören ist, ist mein eigener rasselnder Atem. Ich sitze eine Weile da. Mir ist nicht kalt, obwohl mir mein Atem in kleinen weißen Wölkchen vor dem Mund steht.
Es gibt keinen schnellen und leichten Weg, die Aufgabe, für die mich die Prophezeiung vor so langer Zeit erwählte, zu lösen. Ich wische mir die Tränen fort, stehe auf und wende mich von dem See ab. Ich schaue nicht zurück.
Nie wieder werde ich in diesen Abgrund blicken.
Der blaue Himmel verhöhnt mich, wie ein grausamer Streich, den Gott mir ausgerechnet an diesem Tag spielt.
Henrys Begräbnis ist ganz anders als die graue, regennasse Grablegung meines Vaters. Die Sonne scheint warm auf meine Schultern, und die Vögel singen, als ob wenigstens sie glücklich darüber wären, dass Henry nun bei Vater und Mutter ist. Und ich habe keinen Zweifel, dass dies der Fall ist. Keinen Zweifel, dass er lachend mit ihnen unter jenem samtigen Himmel dahinwandert. Aber das macht es nicht leichter.
Ich fühle Alices Blick über Henrys Grab hinweg, als der Prediger den dreiundzwanzigsten Psalm rezitiert, aber ich schaue nicht zu ihr hin. Ich habe sie nicht angeschaut, seit sie mich aus dem Fluss zog. Ich glaube, ich habe niemanden
wirklich angesehen, obwohl Luisa und Sonia und - natürlich - James mich öfters besuchten. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich sie wegschickte, aber ich kann kaum meinen eigenen Schmerz über Henrys
Weitere Kostenlose Bücher