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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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Alice winkt immer noch. Ruft immer noch. Schaut nur nach mir. Wer wird nach Henry suchen?
    Ich beschließe, den Versuch zu wagen und den Ast zu
erreichen, und sei es nur, um die Gelegenheit zu haben, in Ruhe das Wasser und das Flussufer nach Henrys dunklem Haarschopf abzusuchen. Der Fluss schiebt mich mit solcher Wucht und Geschwindigkeit voran, dass mir der Kampf gegen die mächtige Strömung die wenige Kraft abverlangt, die in meinem zerschlagenen Körper noch geblieben ist.
    Gegen alle Widerstände wechsele ich die Richtung, wende mich langsam dem Flussufer zu meiner Rechten zu. Nachdem sich mein Körper dorthin ausgerichtet hat, bin ich in der Lage, die Strömung zu meinem Vorteil zu nutzen, und als ich Alice und dem ausgestreckten Ast nahe gekommen bin, bin ich so schnell, dass ich fürchten muss, die mächtigen Arme des Flusses würden mich an ihnen vorbeireißen.
    »Fertig, Lia? Du musst zupacken, während du vorbeitreibst, verstanden?« Alices Stimme ist nicht mehr und nicht weniger als ein Befehl, und ich merke, wie ich nicke - trotz allem, was geschehen ist.
    Ich rase, rase, rase auf die Stelle zu, wo der Ast übers Wasser hinausragt.
    »Mach dich bereit, Lia. Eins, zwei… warte… Jetzt, Lia! Jetzt! Greif zu!«
    Sie beugt sich so weit über das Ufer hinaus, dass ich glaube, sie wird ebenfalls hineinstürzen, aber trotzdem strecke ich die Hand aus und grabsche durch das Wasser. Ich bin schon fast vorbei, habe den Moment der Rettung schon beinahe verpasst, als ich die zerklüftete, raue Rinde
des Astes unter meiner Handfläche spüre. Schnell schließe ich die Finger darum, ehe es zu spät ist.
    Abrupt wird meine Reise flussabwärts gestoppt. Ich fühle immer noch das Reißen der Strömung. Ich fühle meine Röcke, schwer vor Wasser, die sich um meine Beine wickeln und mich nach unten ziehen. Aber für den Moment halten der Ast und meine Schwester mich über Wasser.
    »Lia! Lia.« Alice keucht, völlig außer Atem und nass bis auf die Haut, als ob sie ebenfalls beinahe im Fluss ertrunken wäre. Mühsam streckt sie eine Hand aus, während sie mit der anderen den Ast festhält. »Nimm meine Hand, Lia.«
    Ich höre sie kaum. Meine Augen gleiten über die Länge des Flusses, nehmen ihn in seiner Gänze in sich auf, bis er hinter einer Biegung verschwindet. Vielleicht hat er einen tief hängenden Zweig gepackt , denke ich. Vielleicht hat er eine seichte Stelle im Fluss erreicht. Vielleicht klammert er sich an einen Felsen, bis Hilfe kommt.
    Ich hake die Möglichkeiten in Gedanken ab, als würde ich Gerichte für das Abendessen zusammenstellen. Fasse sie zusammen und schöpfe Hoffnung, obwohl es eine Tatsache ist, dass ich nirgends eine Spur von Henry entdecken kann. Wenn ich mir den Fluss so betrachte, so kann ich fast glauben, dass Henry überhaupt nicht hier war.
    » Jetzt , Lia! Du musst meine Hand nehmen. Der Ast wird nicht ewig halten.« Alice ist wütend, und ich bin überrascht, dass ihre Wut immer noch in der Lage ist, meine Aufmerksamkeit zu erregen.

    »H…H…Henry.« Mir ist so kalt, dass ich den Ast in meinen Händen nicht mehr spüren kann, obwohl ich sehe, dass ich ihn immer noch umklammert halte.
    »Wir werden einen Suchtrupp losschicken, Lia. Aber du musst erst aus dem Wasser raus. Schnell, bevor der Ast bricht!«
    Ich denke immer noch nach. Immer noch. Denke über eine Möglichkeit nach, Henry zu retten.
    »Lia!« Alice schreit mich durch Tränen hindurch an, und jetzt erst merke ich, dass sie schluchzt, so heftig, dass sie kaum sprechen kann. »Du wirst jetzt sofort aus dem Wasser kommen. Hast du mich verstanden? Hast du mich verstanden? Denn wenn du tot auf dem Grund des Flusses liegst, kannst du Henry auch nichts mehr nützen.«
    Mir bleibt keine Zeit, ihr Angebot zu überdenken. In ihrer Stimme liegt etwas, in ihren Tränen, in der nackten Angst in ihren Augen, das mir ein Nicken abringt. Sie hat recht. Natürlich hat sie recht. Ich muss aus dem Wasser, damit ich Henry überhaupt helfen kann, und zwar jetzt gleich. Und dazu habe ich nur diese eine Chance.
    Mit einer Hand hält Alice den Ast fest. Mit der anderen greift sie nach mir.
    Ich brauche einen Moment, um allen Mut zusammenzunehmen, denn mir ist so kalt und der Fluss ist so reißend, dass ich fürchte, wieder in die Strömung zu geraten. Diesmal würde ich nicht überleben.
    Eine Hand schließe ich fester um den Ast. Dann strecke ich die andere Alice entgegen.

    Sie packt meine Hand so fest, dass ich keinen Zweifel daran habe, dass

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