Die Prophezeiung der Schwestern - 1
sie eher mit mir in den Fluss stürzen würde, als mich loszulassen. Sie zieht mit einer Kraft, die ich nie in ihr vermutet hätte, bis sie rückwärts in den Schlamm fällt und ich halb im Wasser und halb am Ufer liege.
Sie rappelt sich auf die Füße, rutscht aus und krabbelt auf mich zu, dreht mich auf den Rücken.
»Lia? Lia! Alles in Ordnung?« Ihr Gesicht ist bleich und nass. Ich weiß nicht, ob es der Regen oder ihre Tränen sind, die mir aufs Gesicht fallen. Dann wird es dunkel.
Im Zimmer ist es warm, aber ich spüre die Wärme nur als Abwesenheit von Kälte, die, seit Alice mich aus dem Wasser zog, nur noch tiefer in meine Knochen zu sinken scheint. Ich habe immer noch kaum Gefühl in meinem Körper. Ob durch die Kälte oder aus Angst, weiß ich nicht. Ivy und Tante Virginia hasten umher, legen immer mehr Decken über mich und zwingen mich, kochend heißen Tee zu trinken, der mir die Zunge verbrennt.
»So. Ist dir jetzt warm, Liebes? Gibt es etwas, das ich noch für dich tun kann?« Ich spüre Tante Virginias Blick auf mir, aber ich kann ihr nicht in die Augen schauen.
Ich schüttele den Kopf und betrachte die feine Stickerei auf der Bettdecke. Die Suchmannschaft ist immer noch unterwegs. Sonia und Luisa sind unten, irgendwo in dem stillen Haus. Ich weiß das alles, kann aber nicht die Energie aufbringen, darüber nachzudenken.
Es klopft an der Tür, und Tante Virginias Augen huschen
zu Ivy hin, die neben der Waschkommode über eine Schüssel mit dampfendem Wasser gebeugt steht. Ivy geht zur Tür, öffnet sie einen Spalt und kommt kurz darauf zu Tante Virginia.
Sie beugt sich vor und flüstert Tante Virginia etwas ins Ohr. Sie glauben vermutlich, ich sei dem Wahnsinn so nahe, dass jede kleinste Aufregung einen Anfall auslösen könnte, wobei ich doch in Wahrheit nichts fühle. Nicht das Geringste.
»Ich bin gleich wieder da, Lia.« Tante Virginia streicht mir das Haar glatt und küsst mich dann auf die Stirn. Ihre Lippen liegen kühl auf meiner heißen Haut.
Aus dem Augenwinkel spähe ich zur Tür und erkenne einen Mann in einem groben Wollmantel, der mit dem Hut in der Hand im Korridor steht. Aber eine Sekunde später gleitet mein Blick wieder in die Sicherheit und Vorhersehbarkeit des Musters auf meiner Bettdecke.
Ich kann nicht sagen, wie lange Tante Virginia wegbleibt, denn Zeit scheint in der Wärme und Geborgenheit meines Zimmers jegliches Maß verloren zu haben. Ich bin fast enttäuscht, als sie zurückkommt und sich vorsichtig auf meine Bettkante setzt. Ich wäre gerne eine sehr lange Zeit in der Stille meines Zimmers geblieben, ohne mit jemandem sprechen zu müssen.
»Lia.« Ihre Stimme, zunächst sanft, wird drängender, als ich ihr nicht antworte. »Lia. Ich muss mit dir reden. Über Henry. Schaust du mich bitte an?«
Aber ich kann nicht. Ich kann den Bann des stillen Zimmers
nicht brechen. Jenes Zimmers, in dem ich gelebt habe, seit Alice und ich vor so langer Zeit unser gemeinsames Kinderzimmer verließen. Jenes Zimmers, wo ich Weihnachtsgeschenke für Henry einpackte. Jenes Zimmers, wo ich von James’ Lippen träumte, die sich auf meine pressen. Nichts Schreckliches kann hier geschehen.
»Lia.« Ihre Stimme bricht, und die Traurigkeit darin ist so übermächtig, dass ich ihr fast gehorche. Fast hätte ich sie angeschaut.
Aber ich kann nicht. Ich wende mein Gesicht zur Wand und hebe in störrischer Verweigerung das Kinn, lasse sie wissen, dass ich nicht hören will, was sie mir zu sagen hat. Die Worte, die mir ein Weiterleben unerträglich machen würden.
32
I ch lausche einen Moment, bevor ich die Tür leise hinter mir zuziehe und hinaustrete in die kalte Nacht. Ich will die Stille meines Heims hören, des einzigen Heims, das ich je gekannt habe. Dann erst werde ich in der Lage sein, diesen letzten verräterischen Akt zu begehen. Ich war klug genug, meine Stiefel anzuziehen. Sie wirken lächerlich und fehl am Platz, wie sie da im Licht des Vollmonds unter dem Saum meines zarten weißen Nachthemds hervorlugen.
Meine Sinne sind geschärft. Ich klettere den Hügel zu der Klippe hinauf, die den See überragt. Die klare Luft knistert vor Kälte und der Geruch des nahenden Winters ist viel deutlicher als noch vor wenigen Tagen.
Ich will nicht denken. Ich will nicht an meine Mutter denken. Nicht an Alice, nicht an diese entsetzliche Verbindung aus Gier und Liebe, die ich am Ufer des Flusses erlebt habe.
Ich will nicht an Henry denken.
Ich muss stehen bleiben
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