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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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Speiche, halten sie fest, und ein blitzartiger Schmerz durchzuckt mein Handgelenk, als die Bewegung des Stuhls durch meinen Griff aufgehalten wird.
    Henry ist völlig still, umklammert die Armlehnen seines Rollstuhls mit aller Stärke, die sein kleiner Körper aufbringen kann. Ich versuche es. Ich versuche ja, den Stuhl festzuhalten, aber er ist so schwer, und meine Finger sind
nicht annähernd kräftig genug, um dem Zug von so viel Stahl standhalten zu können. Er löst sich aus meinem Griff mit einem letzten, mächtigen Ruck.
    Und dann fällt Henry. Er fällt das Ufer hinunter. Erstaunlicherweise bleibt er in dem Stuhl sitzen, bis dieser gegen einen Stein stößt, umkippt und Henry aus dem Sitz schleudert.
    Geradewegs in die brausende Flut des Flusses.

31
     
     
     
     
    I ch… ich… ich wollte…« Alices Stottern dringt abgehackt durch den Regen, während ich ans Flussufer renne.
    Ich verschwende keinen Gedanken an sie. Henry ist völlig hilflos im Wasser. Er kann seine Beine nicht benutzen. Ich bin zu langsam, zu langsam. Schneller renne ich, bis ich das Wasser erreiche. Mit einem Sprung tauche ich in die Fluten, direkt in die Mitte, wo es am tiefsten ist und wo mich die Strömung am schnellsten zu meinem Bruder tragen wird. Das Wasser schlägt mit einem eisigen Schock über mir zusammen, führt mich flussabwärts und drückt mich unter die Oberfläche. Ich kämpfe erst gegen die Strömung an, ehe ich sie gewähren lasse und der Kraft des Wassers nachgebe, die mich hin und her schleudert, mich gewaltsam auf den Grund presst und meinen Körper über Steine schrammt, die dort liegen.
    Erst als ich keine Luft mehr in den Lungen habe, komme ich wieder zur Vernunft, stoße mich verzweifelt von dem
felsigen Flussbett ab, mit so viel Kraft, wie ich aufbringen kann. Vor vielen Jahren lernte ich schwimmen, in dem ruhigen Wasser vor der Insel, wo wir unsere Sommerferien verbrachten, aber mein wildes Gewirbel in dem reißenden Fluss hat nichts mit dem sanften Schaukeln des Meeres gemeinsam. Mein Kopf taucht aus dem schlammigen Wasser auf, aber der Fluss zerrt an meinen Röcken und droht, mich erneut hinabzuziehen. Ich glaube, etwas Dunkles flussabwärts treiben zu sehen, ehe mein Kopf wieder in dem brodelnden Wasser versinkt.
    Diesmal kämpfe ich, allein aus dem Gedanken heraus, dass Henry möglicherweise nicht weit von mir entfernt ist. Ich trete um mich und strecke mich, greife nach der Oberfläche, bis ich wieder hindurchbreche und Atem hole. Es regnet immer noch. Die Tropfen bilden kleine Kreise auf dem Wasser, die sich schnell in der Strömung verlieren. Ich schaue und schaue, suche den schäumenden Fluss nach einer Spur meines Bruders ab, aber das Wasser ist schlammbraun und der Regen wie eine undurchdringliche Wand, und ich sehe nichts, das mir Hoffnung gibt. Dann werde ich wieder nach unten gezogen.
    Meine Knochen sind müde, taub vor Kälte und den beständigen Schlägen der Felsen auf dem Grund des Flusses. Ich werde wie eine Lumpenpuppe durch das Wasser geworfen und verspüre allmählich den verlockenden Ruf des ewigen Schlafes. Etwas in mir will loslassen. Will, dass ich meinen Mund öffne, damit das Wasser jeden Winkel meines Körpers durchspülen kann, um den Kampf gegen
den Fluss zu beenden, die Prophezeiung, die schwere Last, die mir aufgebürdet wurde.
    Es ist die Stimme meiner Mutter, die mir einen Moment der Klarheit schenkt. Pass auf Henry auf, Lia . Es ist ein Echo in dem halb toten Teil meines Geistes, in dem Teil, der kurz davor steht, aufzugeben, und mit diesen Worten fange ich wieder an, um mich zu treten, kämpfe mich zur Oberfläche empor, kämpfe um mein Leben und um das meines Bruders.
    »Lia! Hierher! Komm hierher!« Zuerst denke ich, ich bilde mir die Stimme nur ein, aber sie ist wirklich und ruft vom Ufer aus nach mir.
    Ich hebe den Kopf über die Stromschnellen hinaus, suche das Ufer ab und entdecke Alice, die dort mit einem langen, dicken Ast in der Hand steht.
    »Komm hierher, Lia! Versuch es! Versuche, hierherzukommen!« Ihre Stimme dringt über die Entfernung kaum zu mir, obwohl sie aus Leibeskräften brüllt.
    Sie steht weit genug flussabwärts, sodass ich, wenn ich mit aller Kraft schwimme, sie erreichen kann. Aber Henry … Die Verzweiflung macht mich schier wahnsinnig, und wieder fange ich an hinabzusinken, während ich den Fluss nach ihm absuche. Keine Spur von ihm. Keine Spur von dem Stuhl, der so schwer ist, dass er gewiss sofort auf den Grund gesunken ist.
    »Lia! Hierher!«

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